Die Olfaktoren
3. FONTAINE, ANEMOI, 76 n.V.
An seinem sechzehnten Geburtstag stand Joshua an der Plexiplastscheibe des großen Wintergartens der MacAillans und starrte versonnen nach Süden. Die andere Seite des Canyons lag etwa fünf Kilometer entfernt in tiefem Schatten; Konturen waren nur wenige zu erkennen. Genau vier Jahre waren es nun schon her, seit sich die Weltsicht der Menschen auf Anemoi radikal verändert hatte. Und eine dieser
Veränderungen befand sich gerade mal zwei Meter von ihm entfernt.
Verstohlen schaute er nach rechts, wo Dala stand, die schöne Thetyanerin. Sie trug wie immer einen hautengen Einteiler, diesmal in der Grundfarbe lindgrün, auf dem sich in allen anderen Farben des Regenbogenspektrums Kreise drehten, Blitze zuckten und Wellen schlängelten; die Figuren wirkten an den Rändern zerfasert oder verschwommen, dass einen schwindelte, wenn man sie länger betrachtete. Vielleicht war das ja Absicht, überlegte Joshua. Der Einteiler ging bis zum Halsansatz und endete an den Handgelenken, ließ aber die Fußknöchel frei. Ihre Füße steckten in einer Art Mokassin. Diese sich auf der Kleidung bewegenden Figuren waren der letzte Schrei auf Thetys, wie Dala beteuert hatte.
Die Älteren, vor allem aus der Generation, die noch während des Vergessens aufgewachsen war, hielten diese Art der Bekleidung für unschicklich, aber Joshua gefiel, was er an weiblichen Rundungen sah. Er errötete bei dem Gedanken, der Schweiß brach ihm plötzlich aus und er wandte sein Gesicht ab. Mein Gott, sie war schon achtzehn! So viel älter!
Joshua fragte sich, ob Dala
roch, was ihm gerade durch den Kopf ging. Es hieß, die Zed’hä könnten die Gefühle von Menschen
riechen, aber bei Dala war er sich da nicht so sicher. Jedenfalls hatte sie diese Fähigkeiten bisher noch nicht zu erkennen gegeben, nicht in seiner Anwesenheit.
Auf ihrer Schulter saß ein rabengroßer, rot-schwarz gefiederter Vogel, Keyshea, die Tierschwester von Dala, die Joshua, wie meist, misstrauisch beäugte.
Dala und Keyshea konnten mit Hilfe neuraler Biochipimplantate auf empathischer Basis lautlos miteinander kommunizieren. Wie genau sich das abspielte, das erschloss sich Joshua nicht und auch sonst keinem Anemoianer. Die Thetyaner machten ein großes Geheimnis daraus, was manche misstrauisch werden ließ. Auch der Zentralregierung gefiel dies nicht, aber sie ignorierte es, denn vertrauensbildende Maßnahmen dem Schwestervolk gegenüber waren nach fast sechshundert Jahren Trennung wichtiger als Dinge, die Misstrauen fördern konnten.
Jedenfalls waren die Thetyaner wahre Meister in Biotechnologie und Gentechnik, geboren aus der Notwendigkeit, ihre Bevölkerung ernähren zu müssen. Aber nicht nur ihre wissenschaftlich-technologische Entwicklung hatte sich seit Beginn der Isolation der Eastside-Kolonien in eine andere Richtung entwickelt. Während die Anemoianer, wie damals die alten Taraner, noch immer beinharte Terra-Nostalgiker waren, hatte sich bei den Thetyanern eine etwas andere Gesellschaftsform entwickelt, die sich zwar nicht sehr von der auf Anemoi unterschied, aber die Unterschiede waren gerade in einigen alltäglichen Dingen spürbar.
Dala war die Tochter von Menusan Zanodi, einer der
Betreuer der Zed’hä. Die Fremden und ihre Betreuer wohnten normalerweise im neu errichteten Botschaftsgebäude, dessen meisten Räumlichkeiten auf die Bedürfnisse der Zed’hä zugeschnitten waren, aber da die Bauarbeiten noch nicht komplett abgeschlossen waren, hatte man Menusan und Dala Zanodi sowie Selya, Dalas Mutter, eine gewöhnliche Thetyanerin, bei den MacAillans einquartiert.
Als Betreuer besaß Menusan Zanodi einen operativ verbesserten Geruchssinn. Dala hatte diese Fähigkeit auch, sogar noch ihrem Vater überlegen, denn ihr Geruchssinn war noch in der befruchteten Eizelle genetisch optimiert worden. Sie befand sich allerdings noch in der Ausbildung zur Betreuerin. Optisch verliehen die übergroßen Nasen von Menusan und Dala ihren Fähigkeiten Ausdruck. Ein Anblick, für Joshua zwar immer noch gewöhnungsbedürftig, der aber Dalas Schönheit keineswegs in Frage stellte.
Doch so sehr ihr Geruchssinn dem eines normalen Menschen überlegen war, so war er doch rudimentär im Vergleich zu dem eines Zed’hä. Aber es half, sich mit den Zed’hä besser zu verständigen und sie besser zu begreifen.
Hinter ihr stand das kleine Grüppchen Zed’hä, fünf an der Zahl aus der Großfamilie, die sich entschlossen hatte, die diplomatischen Aufgaben auf Anemoi wahrzunehmen. Diese Großfamilie nannte sich
Mik’zäntik, oder so ähnlich; in Wirklichkeit klang ihr Name weitaus abenteuerlicher, aber menschliche Zungen vermochten diesen unaussprechlichen Namen nicht korrekt zu artikulieren. Selbst Dala und ihren Vater misslang dies, obwohl sie tagtäglich mit diesen Wesen zu tun hatten. Wenigstens beherrschten beide die Sprache der Zed’hä soweit, dass sie verstanden wurden.
Die drei Kinder des Ersten Ehepaares waren anwesend, ein Botschaftsangestellter (ein hohes Tier, wenn es Joshua richtig verstanden hatte, dessen Name er sich allerdings nicht merken konnte) sowie jemand, der sich der „Künstler“ nannte, was auch immer die Zed’hä unter einem Künstler verstanden. Sicherlich nicht das, was Menschen darunter verstanden, dachte Joshua. Jedenfalls war dieser Künstler einer von wenigen Zed’hä, die ganz passabel die Sprache der Menschen sprachen, so gut jedenfalls, wie es seine Sprechwerkzeuge erlaubten.
Die Zed’hä ähnelten Riesenfaultieren mit relativ kurzen Gliedmaßen, zwei Arme und zwei Beine, die, soweit es die Arme betraf, in Händen mit sechs feingliedrigen Fingern endeten. Ihre Physiognomie ähnelte der eines Nagetieres. Herausragend, im wahrsten Sinne des Wortes, waren die überdimensionierten Nasen, das Hauptwahrnehmungsorgan der Zed’hä. Diese Nasen endeten in zwei Hautlappen, die äußerst beweglich waren und als Greiforgane dienten, eine dritte Hand gewissermaßen, wenn auch nicht so fingerfertig wie die eigentlichen Hände.
Joshua blickte auf sie herab. Er hatte noch keinen Zed’hä gesehen, der größer als ein Meter fünfzig gewesen wäre.
Die Zed’hä trugen Kontaktlinsen wegen des grellen Sonnenlichtes. Ihre Heimat war ein erdgroßer Mond im Orbit um einen Gasriesen, eine warme, feuchte, nebelverhangene Welt im ewigen Dämmerlicht, auf der Sichtweiten über dreißig Meter eine Rarität waren. Diese Randbedingungen hatten ihre olfaktorischen Fähigkeiten begünstigt und ihren optischen Wahrnehmungssinn in den Hintergrund treten lassen.
Sie trugen ebenfalls spezielle leichte Anzüge, die ihre Haut feucht hielten, denn das Klima auf Anemoi war ihnen zu
trocken und
windig. Einige Stunden ungeschützt im Sonnenlicht oder Wind konnte bei einem Zed‘hä einen Kreislaufkollaps hervorrufen. Auf ihrer Welt, die ebenfalls einen unaussprechlichen Namen trug, von den Menschen allerdings salopp
Lavadero genannt wurde (was in einer der Alten Sprachen so viel wie „Waschküche“ bedeutete), trugen die Zed’hä lediglich schmucklose leichte Gewänder, vergleichbar mit menschlichen Nachthemden.
Leichte Atemmasken, die sie über ihre Rüsselnasen stülpen konnten, sorgten dafür, dass sie das richtige Luftgemisch atmeten, wenn ihnen danach war, denn der Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre ihrer Heimatwelt lag um einiges höher als auf Anemoi. Aber im Moment baumelten die Masken unbenutzt von ihren Schultern. Da diese Masken ihren olfaktorischen Wahrnehmungssinn behinderten und die handwerklichen Fähigkeiten ihrer Rüssel einschränkten, benutzten die Zed’hä sie nur, wenn es unbedingt sein musste. Normalerweise war die für sie dünne Atemluft auf Anemoi kein Problem.
Insgesamt wirkten diese Wesen doch recht humanoid, wenn man die Fremdartigkeit der Flora auf ihrer Heimatwelt bedachte.
In dem Raum hielten sich noch Donald auf, der Clanälteste der MacAilians, sowie Dalas Vater, in seiner Eigenschaft als Betreuer, mitsamt seinem Tierbruder, einer echten Hauskatze (von der es hieß, dass sie keinem der vielen Klonprogramme der Thetyaner entstammte, sondern ihren Stammbaum sogar bis nach Terra zurückverfolgen konnte) und Joshuas Mutter Carlotta. Sein Vater befand sich, wie meist, im All.
Der letzte in ihrer Runde war ein Mann mit einem wettergegerbten, verschlossenen Gesicht. Er trug den Namen Migel Onyali.
Reginald, das langjährige Clanoberhaupt der Duncans, verstarb Anfang des Jahres im sagenhaften Alter von einhundertundvier Jahren und da seine Kinder selbst schon jenseits der siebzig waren, leitete nun sein Enkel Robert, der älteste Sohn von Dylan, die Geschicke des Clans. Die Duncans hatten ihre Finger wie schon immer in vielerlei Dingen, und so leitete Roberts Schwester Naomi (und somit die Cousine seines Vaters) einer der größten Pferdefarmen des Planeten, etwa dreihundert Kilometer entfernt in den Grassteppen von Miramar. Onyali war ihr Verwalter und hatte den Auftrag, die Reisegesellschaft flussabwärts zu begleiten und sie während ihres Aufenthaltes auf der Farm zu betreuen. Aufgrund seiner Verdrießlichkeit glaubte Joshua zu erkennen, dass ihm die Aufgabe nicht behagte, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht lag es an den Zed’hä. Nicht jeder mochte sie.
Joshua rümpfte die Nase. Das konnte ja heiter werden. Ihm war Onyali vom ersten Augenblick an unsympathisch, er musste sich aber mit ihm arrangieren, wollte er die nächsten Monate überstehen, denn während nach der Besichtigung der Farm alle anderen wieder nach Fontaine zurückkehren würden, würde er bleiben und ein mehrmonatiges Praktikum auf der Farm seiner Großcousine antreten, gewissermaßen unter den Fittichen von Migel Onyali.
Sie alle hatten sich bereits einander vorgestellt, aber nach dem Austausch erster Höflichkeiten war nun Schweigen eingekehrt.
Joshua räusperte sich schließlich und sagte zu Dala, auf ihre leichten Mokassins deutend: „Während der Reise wirst du allerdings anderes Schuhwerk brauchen.“ Er wollte noch auf den Einteiler zu sprechen kommen, unterließ es aber im letzten Moment, wieder leicht errötend.
Dala lachte glockenhell. „Keine Sorge, Joshua. Ich besitze auch Kleidung, die dem Anlass angemessen ist. Alles schon gepackt.“
Soeben betrat ein weiterer Mann den Raum und Donald MacAillan bat mit einer unwirschen Handbewegung in Richtung der beiden Jugendlichen um Ruhe.
„Der Duncan-Clan hat Sie alle eingeladen, seine große Pferdefarm im Süden zu besichtigen. Im Normalfall hätten Sie einen Gleiter bestiegen und wären in spätestens anderthalb Stunden auf der Farm gewesen.“ Er schnaubte verächtlich. „Pffft. Wie langweilig!“
Er wies auf den Neuankömmling. „Dies ist Kapitän Rashita. Er führt eines der letzten dampfbetriebenen Passagierschiffe auf diesem Planeten voller Gleiter, Raumschiffe, Fusionsmeiler und weiterer hochmoderner Errungenschaften. Das Schmuckstück heißt
Liemba. Sie ist noch älter als ich. Und ich hoffe, sie hält länger durch als ich.“ Er seufzte. „Ein Ort romantischer Erinnerung an frühere Tage, vielleicht nicht besser als die heutigen, aber unbeschwerter. Die
Liemba wurde einem prähistorischen Dampfschiff auf Terra nachempfunden und diente während des Vergessens viele Jahrzehnte dem Fähr- und Frachtdienst zwischen dem Canyon und den Farmen. Ich als Clanältester der MacAillans bin stolz, Ihnen dieses Schiff für eine unvergessliche Flussreise zur Verfügung zu stellen. Genießen Sie die Schönheit unseres Planeten. Zumindest für die nächsten dreihundert Kilometer und zwanzig Stunden. Einschließlich eines etwa achtstündigen Aufenthaltes nach etwa der Hälfte der Strecke, während einer hoffentlich lauen Nacht, in der die
Liemba vor Anker geht und Ihnen ein Festmahl unter dem Licht der Sterne serviert wird.“ Er räusperte sich. „Peitschenharzlaternen gibt es natürlich auch.“ Kerzenlicht war tabu, denn die Zed’hä mieden offenes Feuer, auch wenn es nur eine Kerzenflamme war.
Er blickte Joshua an, seine Augen glänzten warm. „Sozusagen ein Geburtstagsmahl für meinen Urgroßneffen Joshua. Herzlichen Gluckwunsch, Junge! Schade, dass ich nicht dabei sein kann, aber Sie wissen ja, das Alter! Und die Geschäfte!“
Er machte wieder einen seiner typischen ausladenden und oft theatralischen Gesten und wies auf den Schiffer. „Bitte nach Ihnen, Kapitän! Genießen Sie den Ausflug, meine Damen und, äh, meine Herren.“ Einen Moment war er sich wohl nicht schlüssig, welchem Geschlecht die Zed’hä angehörten, aber die fünf Fremden waren männlich. Joshua grinste. Manchmal benahm sich sein Urgroßonkel etwas tüddelig. Kein Wunder, er war immerhin neunzig Jahre alt!
Donald MacAillan wartete ab, bis der Künstler seine Rede für seine Artgenossen übersetzt hatte, dann setzte sich der Tross unter seiner Führung in Richtung des Liftes in Bewegung.
Fortsetzung folgt....
Was haben die Thetyaner jetzt mit den Zed'hä zu tun? Mehr nächste Woche, einschließlich näherer Infos über die Zed'hä und ihre Welt. Und was es auf der
Liemba zu essen gab....