Moin!
Ich hatte noch ein paar Infos zum Thema »Romanstruktur und Heldenreise« versprochen. Mittlerweile nach Garching wieder in der Heimat angekommen – ran ans Werk …
Also: Generell zum Thema »Struktur«. Ist für mich wahnsinnig wichtig, weshalb es mich auch ärgert, wenn mir jemand Mangel an Struktur unterstellt. Ohne Struktur gibt es keine Erzählung, sondern nur eine zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen. Und das ist normalerweise ebenso beliebig wie langweilig. Grundlegende dramaturgische Strukturen lernt man (wenn ich mich recht erinnere) noch in der Grundschule – dieses Spannungsbogen-Ding mit Einleitung-Höhepunkt-Schluss. Für einen kompletten Roman darf das gerne noch ein bisschen ausgefeilter werden.
Es gibt diverse populäre Strukturmodelle, die üblicherweise kompatibel miteinander sind. Bei Filmen hört man von 3-Akt-Struktur, aber der dritte Akt hat eigentlich immer ein markantes Ereignis in seiner Mitte. Bei Fernsehserien spricht man von 4-Akt-Struktur, und der einzige Unterschied ist, dass dieser Midpoint in der Fernsehzählung einen neuen Akt einleitet, statt wie im Film einen Akt zu halbieren.
Das ist noch sehr formal. Es gibt inhaltlich geprägte Modelle wie die erwähnte Heldenreise (12 Stadien) oder die Beats nach Blake Snyder. Beide Modelle sind kompatibel mit dem Vier-Akter, mit dem ich am häufigsten arbeite. Sie machen etwas unterschiedliche Vorschläge, was wann zu passieren hat. Wenn ich ein Exposé bekomme, schaue ich, welches bewährte Modell, das zu guten Geschichten führt, für die vorgegebenen Inhalte am besten geeignet ist. EA 2941 und 2947 haben sich bspw. an den Beats von Snyder orientiert, EA 2962 und 2963 waren Heldenreisen.
Die Heldenreise geht i. Ü. zurück auf die Arbeit eines Mythenforschers, der erstaunliche Ähnlichkeiten in den Volkserzählungen völlig unterschiedlicher Kulturkreise entdeckt hat. Es gibt so etwas wie eine kulturunabhängige Erzählstruktur, die auf der ganzen Welt und seit Jahrtausenden als interessant empfunden wird – auch wenn ihre markanten Punkte in den Details mit völlig anderen Inhalten gefüllt werden.
Das hat irgendwann auch Hollywood bemerkt, und so lässt sich diese Heldenreise in fast jedem modernen Film wiederfinden. Das ist nicht schematisch oder einfallslos, wenn es gut gemacht ist. Die Frage ist nur, ob diese Voraussetzung erfüllt wird. Das gelingt sehr unterschiedlich gut – von »Die Frau des Zeitreisenden« (genial) über »Frozen« (ziemlich klasse) über »Star Wars IV« (sehr konservativ, aber hat die Gnade der frühen Geburt) bis zu »Shape of Water« (ein Film, dessen Erfolg ich nicht verstehe, weil die Geschichte in so gut wie jedem Detail gnadenlos vorhersehbar ist).
Fast jeder Leser hat ein Gefühl dafür, wann die Geschichte in die Irre geht. Das sind diese Momente von »Jetzt quatschen die noch immer, allmählich muss doch mal was passieren …« Auf genau diese Stellen machen einen die Strukturmodelle aufmerksam. Man kann als Autor dann immer entscheiden, dass es für genau *diese* Geschichte völlig richtig ist, das mal zu ignorieren und es anders zu machen. (Bsp. EA 2947: Strikte Befolgung des Strukturmodells hätte zu zwei bis drei Kapiteln am Anfang geführt, in denen uns Perry untätig im Raumschiff sitzt und Selbstgespräche führt, von denen überdies ein großer Teil noch frühere Romane ins Gedächtnis rufen muss. Laaaangweilig. Daher meine Entscheidung, mit den verschränkten Zeitebenen und dem Wechsel von Action und Vorgeschichte zu arbeiten. Chronologisch angeordnet hat man dann immer noch die funktionierende Erzählstruktur, aber von der Leseabfolge her ist es bewegter und spannender.)
Am Beispiel von EA 2963: Einige Leser haben ja bemängelt, dass es zuviel kleinklein gibt, zu viele Gefahren, zu viele Rettungen … Das lässt sich manchmal nicht vermeiden. Manchmal müssen bestimmte Infos und Wendungen einfach im Sinne der Serienhandlung untergebracht werden, selbst wenn aus Sicht des Einzelromans nicht ideal ist.
Die Aufgabe ist dann, trotzdem ein funktionierendes Ganzes zu schaffen. Das versuche ich, indem ich eine in sich geschlossene Entwicklung der Charaktere schildere. Denn auch wenn die äußere Handlung teils notgedrungen sprunghaft wirkt, funktioniert der Text trotzdem, wenn die Charaktere eine runde Entwicklung durchleben, die unseren Leseerwartungen entspricht.
Wenn wir uns 2963 ansehen (zur Verdeutlichung verschneide ich das mal mit den vergleichbaren Stufen bei Star Wars IV. Rainers Einordung vorher im Thread stimmt allerdings nur teilweise, wo nötig, korrigiere ich nach):
1: Die normale Welt
"1. Ausgangspunkt ist die gewohnte, langweilige oder unzureichende Welt des Helden." (Mann, ist Tattooine langweilig!)
Atlans Ausgangslage, also der Kampf im Eismeer.
2: Der Ruf zum Abenteuer
"2. Der Held wird von einem Herold zum Abenteuer gerufen." ("Wer ist sie? Sie ist wunderschön!")
Shapandh fordert sie zur Jagd auf Strymer auf.
3: Ablehnung des Rufs
"3. Diesem Ruf verweigert er sich zunächst." (Neee. ich kann hier nicht weg ... die brauchen mich auf der Farm ... das Imperium ist so weit weg ...")
Strymer wird besiegt, doch damit scheitert auch Atlans Reise – sie können das Eismeer nicht verlassen und sind todgeweiht.
4: Der Mentor
"4. Ein Mentor überredet ihn daraufhin, die Reise anzutreten, und das Abenteuer beginnt." (Hallo, Obi-Wan!)
Sie kommen doch weiter, aber Shapandh muss sich opfern und weist ihnen einen Weg zurück ins Konglomerat, mit ein paar weisen Worten.
5: Überschreiten der ersten Schwelle
"5. Der Held überschreitet die erste Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt." (Da geht sie hin, die Farm. Alternativ: "Du hast den ersten Schritt in eine größere Welt getan.")
Sie durchqueren den Dakkarraum und bereiten sich auf den Weg ins Paslaim vor.
6: Freunde, Feinde, Prüfungen
"6. Der Held wird vor erste Bewährungsproben gestellt und trifft dabei auf Verbündete und Feinde." (Flucht aus Mos Eisley und hallo, Todesstern.)
Partnerschaft mit Tamareil, Auseinandersetzung mit verschiedenen Paslaimonen, knapp der Auslieferung entkommen.
7: Annähern an die tiefste Höhle
"7. Nun dringt er bis zur tiefsten Höhle, zum gefährlichsten Punkt, vor und trifft dabei auf den Gegner." (Rettungsmission für Leia im Todesstern)
Atlan erfährt mehr über das Konglomerat und die Gemeni, Planung des Vorstoßes ins Innere.
8: Die Prüfung
"8. Hier findet die entscheidende Prüfung statt: Konfrontation und Überwindung des Gegners." (Beinahe zerquetscht in der Müllpresse und andere Fährnisse. Konfrontation mit Vader. Obi-Wan stirbt.)
Angriff der Gemeni aufs Paslaim – Atlan muss sich bewähren.
9: Die Belohnung
"9. Der Held kann nun den „Schatz“ oder „das Elixier“ (konkret: ein Gegenstand oder abstrakt: besonderes, neues Wissen) rauben. (Flucht mit der süßen Prinzessin und den Plänen)
Atlan bekommt die Genehmigung, im Paslaim zu bleiben, und erhält Ausrüstung und Unterstützung.
10: Die Rückkehr nach Hause
"10. Er tritt den Rückweg an, während dessen es zu seiner Auferstehung aus der Todesnähe kommt." (Knappo knappo gelingt die Rückkehr zur Rebellenbasis)
In diesem Fall keine Rückkehr, sondern der Vorstoß ins Innere (aber auf dem Weg Richtung Milchstraße).
11: Auferstehung
"11. Der Feind ist besiegt, das Elixier befindet sich in der Hand des Helden. Er ist durch das Abenteuer zu einer neuen Persönlichkeit gereift." (Oh. Ich bin wohl ein Jedi).
Sie sind geschlagen, aber dank Tamareils unerwartetem Eingreifen können sie das Blatt in letzter Sekunde wenden. Tatsächlich scheint Shapandh zu sterben und aufzuerstehen.
12: Rückkehr mit dem Elixier
"12. Das Ende der Reise: Der Rückkehrer wird zu Hause mit Anerkennung belohnt." (Und siehe da, es gibt Orden und eine strahlende Prinzessin.)
Der Vorstoß ist scheinbar gescheitert sein, aber sie konnten die Pläne erbeuten, die für ihr weiteres Vorgehen immens wichtig werden.
Das ist nicht vollständig so vom Exposé vorgegeben. Einige Punkte ja. Andere musste ich selbstständig ergänzen, eben damit sich eine sinnvolle, spannende, geschlossene Romanstruktur ergibt.
Etwas in dieser Art findet sich also häufiger mal in meinen Romanen. Aber eben auch nicht immer und nicht zwingend genau so, weil für manche Expos andere Strukturmodelle eine bessere Geschichte tragen oder weil ein allzu sklavisches Befolgen des Modells etwas Langweiliges hervorbrächte. Und abgesehen von der Struktur der Gesamthandlung entwerfe ich noch für jeden wichtigen Charakter seine eigene Entwicklungsstruktur mit einigen markanten Punkten im Einklang mit dem Vier-Akt-Modell. Üblicherweise sind das mehrere Tage Konzeptionsarbeit, bevor auch nur die erste Zeile Romantext entsteht.
Ich hoffe, Ihr versteht mein Befremden, wenn man meinen Texten Strukturlosigkeit unterstellt.