Charakteristik der Autoren

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Kemoauc
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Kemoauc »

cold25 hat geschrieben:Welcher Autor konnte die besten Charaktere erschaffen? D.H. ihnen Leben einzuhauchen, so dass man sich mit ihnen identifizieren konnte, sie Wiedererkennungswert hatten, nicht unbedingt auf die Hauptcharaktere bezogen, sondern auf die sagen wir mal gevolzten :D oder Nebencharaktere, die länger in der Serie verweilten.
Da hast du dir die Antwort eigentlich schon selbst gegeben - ganz klar Willi Voltz.
Später konnte dies auch Marianne Sydow noch sehr gut. Alle Autoren hatten irgendwo Figuren, mit denen sie besonders gut klar kamen oder auch weniger. Aber wenn du nach dem Autor fragst, der es am besten hinbekommen hat solche Nebenfiguren zu erschaffen, dann war das m.E. eindeutig Voltz.
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Vincent Garron
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Vincent Garron »

Auf die Frage kann es nur eine Antwort geben und die hat Kemoauc schon gegeben ;)
Es gibt zwei Dinge die unendlich sind: Das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir aber nicht ganz sicher.
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von cold25 »

Vincent Garron hat geschrieben:Auf die Frage kann es nur eine Antwort geben und die hat Kemoauc schon gegeben ;)
naja das war uns allen ja schon vorher klar :)
Es ging eigentlich eher um die Anderen Autoren. Wen fandet ihr da am besten?
just READING:

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DelorianRhodan
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von DelorianRhodan »

War eigentlich Giffi Marauder eine Schöpfung der Expokraten oder von HGE? :gruebel:
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Vincent Garron
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Vincent Garron »

DelorianRhodan hat geschrieben:War eigentlich Giffi Marauder eine Schöpfung der Expokraten oder von HGE? :gruebel:
Ich hab mir vor Jahrzehnten schon ein Suchprogramm geschrieben und die Daten aller Hefte dort eingetragen. Daher kann ich dir sagen:
Giffi Marauder wurde 12 mal im Hauptpersonenkasten erwähnt (Giffi Marauder, Tashit Lovelin, Tovari Lokoshan) und alle 12 Romane sind von H.G. Ewers.
Damit dürfte die Frage geklärt sein :D
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Alexandra
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Wer sich für meine gesammelten Analysen von Perry-Rhodan-Autoren interessiert, schaue unter
http://cc-zeitlos.de/.

Die Seite gehört Hans Hermann alias cc-zeitlos, der früher (als einer von drei) Capricorn herausgegeben hat und auch wieder schreibt.
Mitstreiter sind herzlich willkommen (Kontakt im Impressum).
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Alexandra
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Marc A. Herren - In eine neue Ära (PR 2729)
Spoiler:
Als Ruhepunkt innerhalb des rasend schnellen Zylus vom „Atopischen Tribunal“ habe ich mir, neben Lukas’ „Paradieb“, einem äußerst komplexen Text voll außertextueller Bezüge, den übersichtlicheren „In einer neuen Ära“ von Marc A. Herren gewählt. Wie immer arbeite ich vor allem textimmanent auf der Basis einer Strukturanalyse.
Dies ist der Roman, in dem Toio Zindher den Terranern hilft, Vetris Molaut einen Zellaktivator erhält und die TRAJAN vernichtet wird. Man kann ihn wegen der Ereignisse um Gucky, Toio und Orest Athapilly gut als Fortsetzung zu Leo Lukas’ „Paradieb“ (PR 2721) verstehen. Er ist jedoch wesentlich geschlossener und ruhiger geschrieben. Die Schnitttechnik ist übersichtlicher als die von Lukas: Jedes der acht lediglich mit dem Datum beschrifteten Kapitel umfasst nur wenige Abschnitte, wo Lukas schnell auf sechs oder acht kommt. Die Abschnitte sind länger und ihre Verknüpfung erfolgt nicht durch ein vom Autor gesetztes Unterthema, sondern durch die mit ihren Aktionen in Wechselwirkung tretende Innenwelt der Protagonisten und unauffällige Subtexte. Häufige Perspektivenwechsel ergänzen einander, Wiederholungen akzentuieren das Geschehen. Die ausführlichen Rückblicke erleichtern die Orientierung und wurden durchgehend ins Geschehen eingebaut.

Die Kapitel sind acht an der Zahl, nicht fünf wie im klassischen Drama - aufgrund von Herrens ausgiebiger Beschäftigung mit dem Mahnenden Schauspiel und suche ich bei ihm aber natürlich sofort nach entsprechenden Regelmäßigkeiten und werde fündig. Das beginnt mit der Handhabung von Prolog und Epilog, die, verglichen mit 2721, ebenfalls geteilt sind, aber in je zwei Abschnitte mit übersichtlichem Handlungsbezug. Die folgenden drei Kapitel stellen Planungen dar und das Zusammentreffen der handelnden Personen. Nur durch die Überschriften wird vermittelt, dass innerhalb der Fiktion zwei Wochen vergehen. Im vierten Kapitel kommt der Höhepunkt, in den drei folgenden geht viel kaputt. Das achte, beschriftet mit einem Zeitraum von etwa acht Wochen, erfüllt trotz seines Handlungsreichtums als Nachtrag zum Aufstand der Ertruser in gewisser Weise die Funktion eines Epilogs, dem der echte Epilog folgt, da er die neue Weltordnung nach der Katastrophe andeutet. Reflektorfigur des Epilogs ist Gucky, der die Ereignisse des Romans Revue passieren lässt, um dann mit Neu-Atlantis einen Ausblick in die Zukunft zu geben.

Der Prolog fokussiert auf der erst schlafenden, dann wachen Toio Zindher. Ihr Traum besteht aus einer Herren’schen Version der Ereignisse um Tekeners Tod, der für Toio hinter ihrem Ziel, Bostich, und dem Tod ihres Teampartners Trelast-Pevor zurücktritt. Als Toio aufwacht, folgt nach einer kurzen Orientierungsphase die Begegnung mit Gucky, in der die laufende Suche nach Rhodan und Bostich, Guckys neue Fähigkeiten und Toios Rolle darin explizit thematisiert werden. Genau diese Themen stellen den entsprechenden Handlungsstrang des Romans, der die Kapitel I, IV, VII und den Epilog ausfüllt.
Im ersten Kapitel treffen Toio Zindher, Anna Patoman, Gucky und Orest Athapilly aufeinander. Begebenheiten aus der Vergangenheit verknüpfen sich mit den aktuellen Geschehnissen. Im zweiten Kapitel beginnen der zweite und der dritte große Handlungsstrang: Wir erhalten über Cai Cheung und Arun Joshannan Rückblick auf wie auch Überblick über die politische Situation in der Galaxis und erfahren vom geplanten Aufstand der Ertruser. Im dritten Kapitel schaut sich Cai Cheung die Neo-Ganymed-Baustelle an, der eventuelle Einbau von ZEUT-Trümmern kommt zur Sprache – Relikte einer sehr alten, spannend werdenden Vergangenheit. Dem folgt ein durch die Innenillustration herausgehobenes Gespräch mit dem uralten Homer G. Adams, mit dem sie den Bau eines neuen, geheimen Schiffs bespricht, das eventuell in eben jener Baustelle versteckt mitgebaut werden könnte. Hier kommt Viccor Bughassidow ins Spiel, der finanziert, aber auf Mitsprache verzichtet.
Im vierten Kapitel kommt ein Höhepunkt – die Verleihung des Zellaktivators an Vetris-Molaut. Der Leser verfolgt sie zusammen mit Gucky und Toio, die sie kontrovers bewerten. Gucky hebt Perry Rhodans Vision hervor, mit der er die Menschheit aus den Niederungen ihrer zerstrittenen Machtblöcke rettete, den Atomkrieg verhinderte und den Weg zu den Sternen eröffnete, was Toio als „Anachronismus“ (S.31) abtut, denn sie sieht Molaut als den idealen starken Mann der Milchstraße. Dieses Kapitel steht weit über dem Handlungsverlauf der umgebenden Kapitel, weil die beiden grundlegende Argumente bringen, die über den unmittelbaren Handlungsverlauf hinaus den Wertekanon der Serie an sich thematisieren. Gucky betont, Rhodan sei „kein Heiliger“, aber er „vermittelte den Menschen seine eigene Vision von den Sternen“, habe den Frieden tatkräftig herbeigeführt mit seiner „Vision einer vereinten Menschheit, die Schritt für Schritt zu den Sternen aufbrach, um die Wunder des Universums zu erleben“. Diese Vision habe „die Menschen zusammengebracht. Der gemeinsame Nenner. Sehnsucht. Und der Mut, die phantastischen Träume Wirklichkeit werden zu lassen“ (S.31). Toio hingegen kritisiert Rhodan ironisch als „Übermensch“ und „Heilige(n)“ – sie bezweifelt, dass der Atomkrieg ausgelöst worden wäre. Was beweist, dass der tefrodische Geheimdienst Heft 2 der Serie nicht gelesen hat. Gucky widerlegt diese Falschaussage nicht, aber Toio selbst zweifelt in der Folge ihr Wissen an, um genau die dauerhafte Führung zu problematisieren, zu der ihr Ideal Vetris-Molaut gleich darauf befähigt wird – was Gucky schon weiß, und mit dem er sie konfrontieren möchte, als er daran denkt, die „Bombe platzen“ zu lassen: „Visionäre haben auch immer die dumme Angewohnheit, fremde Visionen bekämpfen zu wollen“, was ihn zum „Anachronismus“ (S. 31) mache, da inzwischen auch andere Terraner Visionen entwickelt hätten.
Gucky verweist auf den Rückzug nach Camelot, Toio kontert mit der dort erfolgten Weiterbewaffnung. Gucky kontert mit der Eigenschaft der Zellaktivatoren, die Träger zu verantwortlich handelnden Staatsmännern und Helfern der Entwicklung des großen Ganzen zu machen (vgl. S.31f). Toio erwähnt Tekener, womit Gucky persönlich zornig wird und sich erst wieder unter Kontrolle bringen muss. Dann diskutieren die beiden über Tetris-Molaut und bewerten sowohl das öffentliche Erschießen der Attentäter wie auch den Titel „Maghan“ völlig verschieden.
Die Diskussion bleibt gerade stecken, als Athapilly eintritt, der für gute Laune sorgt und alle von ihren Standpunkten ablenkt. Interessanterweise verwendet Herren hierzu keinen neuen Abschnitt, sondern lässt die Geschehnisse ineinanderlaufen. Vor der Tür, wo Toio sie nicht mehr hört, entlarvt Gucky Athapilly als Emoter, der Gefühle beeinflussen kann, und die beiden diskutieren über die Aussichten, die Gesuchten wiederzufinden. Dies leitet zur nächsten Phase über, traditionell die fallende Handlung vor der Katastrophe.
Das kurze fünfte Kapitel führt den dritten Handlungsstrang weiter, auf den sich auch der Titel bezieht: Der Planung einer neuen Ära durch die Erhebung der Ertruser. Es beginnt mit Lordadmiral Monkey, der TRAJAN und den sich erhebenden Ertrusern, die den von den Onryonen oktryierten Frieden ablehnen. Im zweiten Abschnitt findet sich jedoch ein Einschub: Die unangemeldete Ankunft von 23.000 Arkoniden, die schon auf einer Azoreninsel Land erworben haben und dort siedeln wollen. Ohne weitere Überprüfung stimmt Cheung dem Asylantrag zu. Gleich darauf erfährt sie von ihrem persönlichen Shuttlepiloten aus Kapitel III vom Aufstand der Ertruser, der mit Jubel auf den Straßen Terranias begrüßt wird. Den Regierungspalast erreichen haufenweise Aufforderungen, ebenfalls Schiffe zu entsenden. Der Impetus von Volkes Stimme relativiert sich, als der Shuttlepilot mit „Au Backe“ (S.41) reagiert. Ich kann in diesem Kontext nicht umhin, den akustisch zu Zwecken des Erschreckens der Onryonen eingeblendeten Geysir (vgl. S.40) mit dem berüchtigten „nun Volk steh auf und Sturm brich los“ der Sportpalastrede zu assoziieren. Natürlich nur in dem Ausmaß, als hier emotional gesteuerte Volksbewegungen zum Zuge kommen.
Im sechsten Kapitel schwelgt Gucky in Erinnerungen und philosophiert mit Orest über ihre Erfolgsaussichten, Toio zum Kooperieren zu bewegen. Orest verwendet seine Parafähigkeit, um Toio zu verführen. Als Morgengabe schenkt sie ihm die Information, an welchem Ort sie Rhodan und Bostich sieht. Dieser gibt sie sofort weiter und wirft dann sein Kontaktarmband weg, so dass alles harmonisch scheint: Zwei haben sich gefunden, und die schöne Toio ist auf dem Weg, zur richtigen Seite überzuwechseln.
Im siebten Kapitel kommt es dann auf allen Ebenen zur Katastrophe: Orest konzentriert sich nicht mehr genug und Toio erkennt, dass er sie ausgenutzt hat. Die Ertruser organisieren einen Aufstand, und in der folgenden mörderischen Raumschlacht wird die TRAJAN vernichtet. Die Terraner erkennen, dass sie politisch gar nichts tun können. Im achten Kapitel kommt das Nachspiel: Die Ertruser müssen sich der neuen Ordnung der Onryonen beugen. Und im Epilog geht es um etwas scheinbar völlig unwichtiges, die Ansiedlung der arkonidischen Exilanten, die jedoch durch die Hoffnung auf Atlans Rückkehr und die Anbindung an die Machtverschiebung im Arkonsystem wesentlich an Wichtigkeit gewinnt.

Der Text enthält viel Informationsvergabe zu den Ereignissen der Vorgängerromane, die aber nie einfach so eingefügt, sondern immer sorgfältig in die Handlung eingebaut sind, indem Gucky oder Arun Joshannan über alles nachdenken. So wie die Bekanntgabe technischer Daten zur GALBRAITH DEIGHTON als Auflistung, die Anna Patoman als Mittel zur Vermeidung eines persönlicheren Gesprächs (vgl. S.12) einsetzt oder die knapp eingestreute Definition von TIPI (vgl. S. 11f) im Kontext persönlicher Vergangenheit. Da der Atopische Zyklus sehr schnell ist, kann es wirklich nicht schaden, mal alles zusammengestellt zu lesen, indem die Protagonisten sich erinnern, darüber nachdenken oder die zukünftigen Schritte planen.
Außerdem schätze ich die funktionierenden Gegenstände, wie den Gedanken berechnenden Spielzeuggucky, das Gepäck, das seinen Weg alleine findet und das Arbeitszimmer, das bei Annäherung die Tür öffnet.
Was ich an Herrens Darstellungsweise besonders mag, ist sein Umgang mit expliziter und impliziter Charakterisierung, die einander ergänzen, manchmal sogar entlarven, ohne dass die entstehende Diskrepanz allzu eindeutig würde. Und die tatsächlichen Sachverhalte letztendlich in der Schwebe bleiben. Eingebettet in übersichtliche, aufeinander bezogene Strukturen.
Wenn etwa nach dem wichtigen Gespräch über das zukünftige geheime Raumschiff erst das Gespräch „(ab)driftet (S.29) und gleich im nächsten Absatz Adams und Leccore mit knappem Gruß und explizit wortlos aneinander vorbeigehen. Oder wenn Gucky über Orest Athapillys Bemühungen um Toio sagt, er „scheint an ihr persönlich interessiert zu sein“ (S.30), bald aber bedauert, dessen Gedanken nicht klar genug lesen zu können, um die Situation einschätzen zu können. Der Leser teilt Toios Wahrnehmung von Orests Vitalenergien, die nicht lügen können, sieht ihn durch Guckys Augen einen Becher synthetischen „Warabi-Extrakt“ (S.42) trinken, der eine aphrodisierende Wirkung haben soll. Als Gucky andeutet, Orest habe „seinem Besten“, das er tun will, nachgeholfen, denkt man natürlich kurz und beiläufig ans „Dinner for one“. In dem Zitatwitz geht fast unter, dass Gucky erwähnt, alles müsse „wie vorgesehen klappen“ (S.43). Ebenso wie fünf Seiten vorher Guckys Bemerkung, ihm reiße der Geduldsfaden und er werde eventuell keine andere Möglichkeit haben, als Toio Paragabe und Leben zu entreißen, derart existentiell ist, dass sie nicht unbedingt als Aufforderung an Orest verstanden werden muss, dem Ernst der Situation entsprechend zu handeln, weil man eher über den veränderten Gucky nachdenkt. Als Orest sein Weinglas so ungeschickt abstellt, dass es umfällt, kann dies verschiedene Gefühle ausdrücken. Auch als sein Betrug auffliegt, bleibt offen, in welchem Maß er sich trotzdem wirklich für sie interessiert. „Zielpunkt Morpheus-System“ (PR 2638) beginnt mit einer vergleichbaren Szene, zwar ohne Intrige, doch ebenfalls einer dezent dargestellten Liebesszene bei ausgeschalteter Ausschaltung der Überwachung durch die Positronik, und ebenfalls mit einer rothaarigen Frau. Die übrigens, wie Anna Patoman bei Toi Zindhers Ankunft, über inkompetente Männer nachdenkt.
Nachdem in den Romanen vor und zwischen „Paradieb“ und „neuer Ära“ einige recht blutige waren, bei denen eklige Handlungselemente mit bewusst schmutzig gestalteten Personen einher gingen, fällt mir besonders auf, dass in keinem dieser beiden Romane das Zwielichtige ins Enge, Schmierige abgleitet. Ob Athapilly sich für den Mata-Hari-Orden erster Klasse qualifiziert hat oder mit welcher Rechtfertigung Gucky ethische Grenzen überschreitet, indem er bewusst den Tod der Gefangenen in Erwägung zieht, sei dahingestellt, aber die Charaktere werden nicht abgewertet.
Anna Patoman wurde mir hier erstmals richtig sympathisch, weil sie authentisch als warmherziger, temperamentvoller Mensch mit Teetasse beschrieben wird. Hier überzeugt sie, angefangen bei ihrer kompetenten Gesprächsführung mit Toio (vgl. S.11) – bisher war sie mir, wie bei der Auseinandersetzung mit dem arroganten Tefroder in 2700, zu sehr als aufbrausender Trampel erschienen, der vor lauter nicht öffentlichkeitstauglichen Meinungen in jedes offene Messer rennt. Schon deshalb, weil die allzu auffällige Formulierung von ihr selbst verwendet wird, und zwar im Kontext des Märchens von Hänsel und Gretel, dass ihrer Ansicht nach nicht für Kinder geeignet ist, wodurch sich Abstand aufbaut.
So wie die Aufmerksamkeit der Protagonisten von Gegenständen zu Personen wandert, von Erinnerungen in die Gegenwart, so ergänzen sich bei Herren die Stimmungen. Ein besonders schönes Beispiel sei aus 2712 entnommen, der beginnt: „Der Wind wehte müden Regen gegen das Glassit der Panoramascheibe. In lang gezogenen Schlieren rann er herab, bis er vom Reinigungsfeld erfasst und der Wasserversorgung des Solaren Hauses zugeführt wurde.“ Sie beschreiben nicht nur das Wetter, sondern auch die Stimmung Cai Cheungs, ich mag die Spiegelung von innerer in äußere Realität, die Herren immer wieder verwendet, ebenso wie das Überblenden von technischen und natürlichen Elementen.
In 2727 nutzt Herren vor allem die Erinnerungen aller und telepathischen Fähigkeiten zweier Protagonisten, um diese Überblendung zu erzielen. Und zwar nicht nur zur komplexen Darstellung aus mehreren Perspektiven, sondern auch, um Personen und Abschnitte miteinander zu verknüpfen. Eine derart enge Verbindung der Protagonisten untereinander kenne ich eher von Arndt Ellmer, der aber nicht über mehrere Perspektiven arbeitet, sondern über sprachliche Signale wie Wortfelder oder Gleichklang arbeitet und Kreisszenarien aufbaut, innerhalb derer alles aufeinander bezogen ist. Herren arbeitet in diesem Roman neben den Subtexten, zu denen wir noch kommen werden, über Gedanken, Wiederholungen aus anderer Perspektive, Erinnerungen und verhaltene, tief sitzende Gefühle, wie Guckys Hass gegenüber Tekeners Mörderin, der von seinen humanistischen Werten in einer fragilen Schwebe gehalten wird, die aber in äußerst knapper Darstellungsweise aufscheinen wie in jenem kurzen Dialog, als Athapilly ihn in der Gewaltlosigkeit bekräftigen will mit den Worten „Du bist kein kalter Mörder“ und Gucky nichts entgegnet als: „Ich weiß es nicht“ (S.14).
Außerdem verwendet er das Betreten, Verlassen und Abgrenzen von Räumen – was in weit ausgeprägterem Maß bei William Voltz zu finden war, der das Erkennen eines Raumes, das Erringen des Zugangs und das eigentliche Betreten in ganz hohem Maß verwendet hat, um seine Abläufe zu gestalten – was vielleicht in wesentlichem Maße die optimistische Grundstimmung seiner Werke beförderte.
Ein Beispiel für die Vorgehensweise Herrens ist Toios Aufwachen, das Wahrnehmen ihres Zustandes, ihre Bestandsaufnahme, ihre Beobachtung, dass sich das Leuchtfeuer eines Aktivatorträgers nähert, der Gucky sein muss. Dann setzt sie sich bewusst in Positur. Gucky, der sie an ein kitschiges Spielzeugtier erinnert, während sie zugleich sein wahres Alter und seine Persönlichkeit wahrnimmt, betritt das Zimmer. Die beiden sprechen über den Status Quo und die Vergangenheit, an die sie sich gerade erinnert hat, und Gucky erklärt ihr genau, was er ihr gegenüber empfindet, welche Gefahr er für sie darstellt, während sie detailliert über ihre Strategien ihm gegenüber nachdenkt. In der Folge entspinnt sich die Handlung, in der es um eben jene Gefahr und Toios Mithilfe geht, durch die sie sich rettet. Gucky reagiert nicht auf Toios Strategien, mit denen sie Menschenmänner fasziniert, und er weiß das.
Gleich darauf wiederholt sich der Ablauf mit einer anderen weiblichen Hauptperson: Anna Patoman erinnert sich auf dem Weg zum in ihrem Arbeitszimmer wartenden Gucky an ihren Spielzeuggucky, eine Maschine, die die Gedanken eines Kindes treffsicher genug berechnen konnte, um dem Kind Telepathie vorzugaukeln. Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt. Sie erwartet eine Enttäuschung, aber Gucky hat wirklich ihre Gedanken gelesen und bringt sie zum Lachen, so dass sich die beiden sofort blendend verstehen. Auch sie spürt seine Wärme ebenso wie seine Trauer. Bald darauf trifft Orest ein, den sie ebenfalls aus ihrer persönlichen Vergangenheit kennt. Während Orest im „Paradieb“ als Arztkollege und Betreuer von Jugendlichen in Erscheinung trat, ist er hier ein richtiger Erwachsener, der tut, was Erwachsene den Jugendlichen nicht sagen. Anna kennt ihn aus der Zeit ihrer gescheiterten Ehe, er kennt ihre ganz dunklen Zeiten, deshalb vermeidet sie tunlichst das private Gespräch. In der Folge baut sich seine zwiespältige Beziehung zu Toio auf.
Auf der großen Ebene der Rahmenhandlung kommen gleichzeitig die Verwendung der uralten ZEUT-Trümmer beim Bau von Neo-Ganymed, die geheimen Planungen des uralten Homer G. Adams und die Unterwerfung der vertrauten alten Ertruser-Siganesen-Kopplung unter die Atopische Ordo ins Spiel, so dass auch hier Vergangenheit in der Gegenwart aktualisiert wird.
Gucky selbst zeigt seine alte Persönlichkeit als lustiges lebendes Spielzeug und Spaßmacher ebenso wie seine neuerdings betonte Fähigkeit zum Planen, zu Geheimnissen und zum Durchgreifen, die es vor 2700 gab, die aber immer wieder zügig überdeckt wurden vom lustigen, anhänglichen Gucky. In den Passagen, in denen er in Erinnerungen schwelgt, kommt durch Namen, Geschichten und „Originalsprache“ das gute alte Rhodan-Feeling auf. Im zentralen vierten Kapitel wird er dann über den Text hinaus zum Sprachrohr für Ideen der Autoren und Leser, als er Rhodans Lebensleistung bewertet und überlegt, ob die Atopen bleiben oder zum Ende des Zyklus wieder abgeschafft werden.
Ein weiterer Bereich, in dem Herren mit Aussparungen arbeitet, ist die Raumschlacht. Nach einer umfangreichen Darstellung der Vorbereitungen, aus denen hervorgeht, dass wir es mit kompetentem Personal und klaren, funktionierenden Kommandostrukturen zu tun haben, erfolgt die Schilderung des Untergangs der TRAJAN – gar nicht. In der Art eines Botenberichts erfahren wir Details des Nachher, dass etwa Monkey in einem Fesselfeld von Bord geholt werden musste und wie die Bergung der Überlebenden ablief. So bleibt die Erzählung im Rahmen des bühnentechnisch Möglichen. Berichtet wird, wann man konkret beschreiben kann.
Erst erinnerte mich diese Reduktion an jene mir unsympathischte Neigung im Neuroversum-Zyklus, allerdramatischte galaktopolitische Handlungen in den Hintergrund zu drücken, während die Hauptpersonen mit irgendetwas Privatem beschäftigt sind, so dass man vor lauter persönlichem Kram kaum was vom Wichtigen mitbekommt. Dann dachte ich an jene paar unappetitliche, gewalttätige Romane, die ich vor kurzem mit großem Widerstand gelesen hatte und verzichtete dankend auf eine detaillierte Schilderung des Untergangs. Drittens spielt sich eine Raumschlacht in derart großen Räumen mit derart wenig Sichtbarem ab, dass das Darzustellende auf jeden Fall auch wieder Ausschnitte gewesen wäre mit fragwürdiger technischer Authentizität. Außerdem waren die Personen eben nicht derart mit ihrem Gefühlsleben beschäftigt, dass sie die Zusammenhänge darüber vergessen hätten. Also liegt hier ein anderer Fall vor.

Weitere Vernetzungen über unterschwellige Subtexte sind etwa Joshannans Überlegungen, er müsse ein „leuchtendes Beispiel (S.15) darstellen, nachdem es im ersten Handlungsstrang ständig um das Leuchten der Vitalenergien von Verliebten und Zellaktivatorträgern geht. Herren scheint gerade Zahlen deutlich zu bevorzugen, die wenigen ungeraden Zahlen hat er den „Bösen“ (vgl. S.39) zugeordnet und den Geheimnisvollen (vgl. S.40) Dies zieht sich aber nicht durch den ganzen Text.
Dann das Märchen von Hänsel und Gretel, durch das die Metapher von der „Brotkrumenspur“ und „Kieselsteinspur“ (S.13f) in die Handlung eingeführt wird und in der Folge immer wieder zur Sprache kommt. Ebenso der dezente Gleichklang von „Viccor“ (S.29) und „Vektor“ (S.30) auf einanderfolgenden Seiten.
Herrens Farbadjektive weisen ein interessantes Eigenleben auf. Mal abgesehen von überraschenden Zuordnungen wie dem „schwarzen Sichelkamm“ (S.20) des Ertrusers – die waren doch immer sandfarben, jedenfalls bei idealen, gut aussehenden Ertrusern wie Melbar Kasom, oder? Und der Onryone besucht den Ertruser „im khakibraunen Gewand“ (S.38), nicht in einem der typischen schreiend bunten Gewänder. Während sein Emot äußerst aktiv ist – die Eigenschaft dieses Organs, Gefühle durch sichtbare Signale auszudrücken, kommt Herrens Darstellungsweise entgegen. Im Laufe des Gesprächs ist es hochaktiv: Es „verfärbte sich hellgrün und zitterte“, nahm „einen dunkelgrünen Farbton an“, und „verfärbte sich kalkweiß“, zu Gasparans Freude: „mit Genugtuung registrierte (er) das Zittern von Ghuttcuyrs Hinterkopfohren“ (S.39f). Während in der Folgeszene die als weiß-schwarz etablierten Go-Steine Cheungs betrachtet werden, ehe der Exil suchende Arkonide „im blütenweißen Gewand“ mit „albinoroten Augen“ (S.40) erscheint, so dass die Szenen auch farblich klar voneinander abgehoben wurden. Rot, Weiß und Schwarz dominieren auch die Verführungsszene und die Attacke auf Athapilly im Krankenzimmer, dessen Umfeld grau, „silbergrau“ und „bläulich“ (S.40) abgegrenzt auftritt. Auch Anna Potoman hat „mit grauen Fäden durchzogene(s) Haar“ (S.30), und sie bildet einen funktionierenden Schutzraum.
Während das „goldene Leuchtfeuer“ (z.B. S. 44), als das Toio die Aktivatorträger wahrnimmt, immer wieder die Richtung des Geschehens bestimmt. Goldfarben sind aber auch die Augen der Onryonen.
Monkeys Augenimplantate sind „anthrazitfarben“ (S.21), Adams Augen „blassgrau“ (S.28), das Gesicht des Tesquiren „silberblau […] mit den hieroglyphenähnlichen Bildern“ (S.39). Die Greifzungen des Cheborparners UFo, der „rot glühende“ (S.23) Augen hat, „ringelten sich wie kleine rote Schlangen“ (S.23) – mit eben diesen macht er später, anlässlich der Niederlage, eine beleidigende Geste, die ohne Folgen bleibt, weil die Onryonen sie nicht verstehen.
Parallel finden wir kleine Nebenmomente im Knacken von Monkey Hals, „als wäre der Ast eines knochigen Baumes gebrochen“ (S.22) – kann man das als Vorankündigung der kommenden Niederlage verstehen? Und ist die Beschreibung des „zweigdürren Tesquiren“ (S.38) dann nur rein deskriptiv? Auf das eruptive Gelächter des Ertrusers mit seinem eingeblendeten Geysir sind wir schon eingegangen.

Insgesamt würde ich Marc A. Herrens Schreibart vor allem als sorgfältig, gründlich und gut verknüpft beschreiben, mit kleinen, unterhaltsamen Details, die aber stets der Handlung untergeordnet bleiben. Beruhigend. Es hat sich immer wieder ergeben, dass ich gerade seine Romane tief in der Nacht lese, wenn ich nicht schlafen kann – also zwischen zwei und vier Uhr. Und am Schreibtisch oder am Küchentisch, also auf Holz. Reiner Zufall, ergibt sich aber immer wieder so. Ich setze mich gerade hin, wenn ich seine Texte lese. Vielleicht, weil die Figuren bei ihm disziplinierter sind als bei anderen Autoren. Oder weil alles so schön geordnet erzählt wird.
Zuletzt geändert von Slartibartfast am 31. Dezember 2013, 15:53, insgesamt 2-mal geändert.
Grund: Auf Wunsch der Verfasserin Spoiler gesetzt
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von MAH »

Liebe Alexandra,

ich danke dir herzlich für diese lange Analyse.

Der 2729 war einer der aufwändigsten PERRY RHODAN-Romane für mich. An jeder Szene habe ich länger gearbeitet, als ich es von mir gewohnt war. Dabei musste ich immer wieder unterbrechen, um das Geschehen der vorhergehenden Romane richtig einzuordnen und einzuarbeiten aber auch, um frühere Inhalte (z.B. Zaltertepe) aufzufrischen. Da die Handlung stark fragmentiert war, machte ich mir auch viele Gedanken zu den Innenwelten der Figuren. Und gerade deswegen habe ich mich sehr über mehrere deiner Aussagen gefreut. Manchmal bin ich mir als (PR-)Autor nicht sicher, was beim Leser überhaupt hängen bleibt. Wenn man die Kommentare in diesem Forum anschaut, dann könnte man denken, dass beispielsweise der Untergang der TRAJAN das Kernstück des Romans bildete. Oder irgendwelche anderen Details während der Raumschlacht. Oder ob man einen präparierten Buchdeckel als Waffe verwenden kann*. Oder die Aussage, dass ich den Fans einen "Spiegel vorhalten wollte". (Ein Punkt übrigens, den ich nicht nachvollziehen kann, da ich die generellen Handlungsdiskussionen hier im Forum nicht mitverfolgt habe.)

Mir sind die Figuren wichtig, die Figuren und die Welt, in der sie leben. Aus diesem Grund habe ich mich gefreut, dass dir viele kleine Details aufgefallen sind, die ich - teilweise bewusst, teilweise unbewusst - eingebaut habe. Danke dir, Alexandra. Dein Text hat mich sehr gefreut und gibt mir ein wenig Zuversicht zurück, dass nicht alle scheinbar unwichtigen Details auf der suche nach dem Handlungsfortschritt sofort wieder versickern.

Und weil ich mich eben so gefreut habe, vertraue ich dir ein Geheimnis an: UFos Sekretär habe ich Fydolormirhan Fandorycze genannt, abgekürzt FyFan. Fy fan ist ein schwedisches Fluchwort und lautet übersetzt zum Teufel. :D :devil: :unschuldig: Da hatte ich selbst auch diebische Freude beim Schreiben - und niemand bemerkt es ... :mellow: :mellow: ;)


* (BTW: Es wäre wesentlich einfacher gewesen, wenn Toio die Flasche oder gleich ihre Hände als Waffe verwendet hätte. Ich wollte aber das Buch, Cyrano de Bergerac; das Wort, das zur Waffe wird; zu einem nasenähnlichen Dreieck gefaltet, das den (falschen) Verführer töten soll.)
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Elena »

@MAH:
Ich kann gut verstehen, dass Du Dich sehr gefreut hast über Alexandras liebevoll und wahrscheinlich mit viel Arbeit verbundener Analyse.

Du hast geschrieben:
Und weil ich mich eben so gefreut habe, vertraue ich dir ein Geheimnis an: UFos Sekretär habe ich Fydolormirhan Fandorycze genannt, abgekürzt FyFan. Fy fan ist ein schwedisches Fluchwort und lautet übersetzt zum Teufel. :D :devil: :unschuldig: Da hatte ich selbst auch diebische Freude beim Schreiben - und niemand bemerkt es ... :mellow: :mellow: ;)
Die schwedischen Fans werden es sicherlich verstanden und sich eins gegrinst haben. Hier in Deutschland ist es keine Überraschung, dass das kaum einer mitkriegt. Also, ich kann auch kein Schwedisch. Aber nach Deiner Übersetzung musste ich herzlich lachen. Danke schön dafür und frohe Weihnachten! :st:
Ein bisschen gesunder Menschenverstand, Toleranz und Humor - wie behaglich es sich dann auf unserem Planeten leben ließe.
- William Somerset Maugham


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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Retrogame-Fan1 »

hier mal meine Einschätzung der Autoren über ihren Schreibstiel:
K. H. Scheer: Sehr Zeitgenössisch für meinen Geschmack. Der Kerl verstand etwas von SF
Clark Darlton/Walter Ernsting: Tolle Erzählweise. Wenn er über Perry schreibt, dann nimmt er zu viele "Perry"s. Mir wären da "Rhodan"s lieber.
Kurt Mahr: Sehr flüssiger, teilweise etwas monotoner Erzähl-Stil. Wirklich jemand, Den ich gern lese, wie die beiden Herren darüber.
W. W. Shols: Teilweise etwas zu Erzählerisch. Kommt mir teilweise vor wie ein Kleine-Kinder-Märchen-Erzähler
Soviel zu "Damals war alles besser" :D
Leo Lukas: Schreibt für meinen Geschmack viel zu historisch. Ganz ehrlich: Scheers Schreibe aus den 60er Jahren finde ich aktueller.
Marc A. Herren:
Ich finds toll, dass mal jemand jüngeres Romane schreibt, aber die Schreibe ist mir schon wieder ZU aktuell. Ich bin sehr 20. Jahrhundert behaftet. Manchmal sind einzelne Passagen etwas zu lang gezogen, dass es dann auf dauer langweilig wird.
Michelle Stern: Auch wieder jemand junges, aber der Schreib-Stil gefällt mir nicht grad wirklich. Ich würd ja gern schreiben, WAS mich da stört, aber ich weiß es selber nicht genau.
Michael Marcus Thurner: Teilweise wie W. W. Shols. Zu Erzählerhaft. Manchmal auch etwas ZU GENAU. Ich möchte mir selber die Sachen dazudenken.

Zu mehr Autoren weiß ich noch nichts genaueres.
Aufgrund aktueller Vorkommnisse im Forum möchte ich darauf hinweisen:
Meine Beiträge stellen lediglich meine eigene/persönliche Meinung dar (solange nicht anders beschrieben) und sind nicht zu verallgemeinern.
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halut
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von halut »

MAH hat geschrieben:Der 2729 war einer der aufwändigsten PERRY RHODAN-Romane für mich. An jeder Szene habe ich länger gearbeitet, als ich es von mir gewohnt war.
Danke für den Aufwand. Der Roman war ein wirkliches Vergnügen. Für mich der beste der ersten 30 Romane. Wenn man von den dauerüberlegenen Invasoren absieht, für die du nichts kannst, eine glatte schweizer Sechs. Fehlerarm, überlegte Details, überlegt agierende Figuren.
Manchmal bin ich mir als (PR-)Autor nicht sicher, was beim Leser überhaupt hängen bleibt.
Wenig, bevorzugt grobe Fehler. Was der Inhalt war, habe ich schon weit gehend verdrängt, aber nach dem Roman fühlte ich mich richtig gut. Gute Entspannungsunterhaltung. Diese Erinnerung bleibt noch lange.
Aus diesem Grund habe ich mich gefreut, dass dir viele kleine Details aufgefallen sind, die ich - teilweise bewusst, teilweise unbewusst - eingebaut habe.
Wie die gekürzten Fingernägel? Sicher doch. Diese beiläufigen Details unterscheiden einen guten Roman von einem schlechten.
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Alexandra
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Hier die aktualisierte Version des Texts über Herren:

Marc A. Herren - In eine neue Ära (PR 2729)

Als Ruhepunkt innerhalb des rasend schnellen Zylus vom „Atopischen Tribunal“ habe ich mir, neben Lukas’ „Paradieb“, einem äußerst komplexen Text voll außertextueller Bezüge, den übersichtlicheren „In einer neuen Ära“ von Marc A. Herren gewählt. Wie immer arbeite ich vor allem textimmanent auf der Basis einer Strukturanalyse.
Dies ist der Roman, in dem Toio Zindher den Terranern hilft, Vetris Molaut einen Zellaktivator erhält und die TRAJAN vernichtet wird. Man kann ihn wegen der Ereignisse um Gucky, Toio und Orest Athapilly gut als Fortsetzung zu Leo Lukas’ „Paradieb“ (PR 2721) verstehen. Er ist jedoch wesentlich geschlossener und ruhiger geschrieben. Die Schnitttechnik ist übersichtlicher als die von Lukas: Jedes der acht lediglich mit dem Datum beschrifteten Kapitel umfasst nur wenige Abschnitte, wo Lukas schnell auf sechs oder acht kommt. Die Abschnitte sind länger und ihre Verknüpfung erfolgt nicht durch ein vom Autor gesetztes Unterthema, sondern durch die mit ihren Aktionen in Wechselwirkung tretende Innenwelt der Protagonisten und unauffällige Subtexte. Häufige Perspektivenwechsel ergänzen einander, Wiederholungen akzentuieren das Geschehen. Die ausführlichen Rückblicke erleichtern die Orientierung und wurden durchgehend ins Geschehen eingebaut.

Die Kapitel sind acht an der Zahl, nicht fünf wie im klassischen Drama - aufgrund von Herrens ausgiebiger Beschäftigung mit dem Mahnenden Schauspiel und suche ich bei ihm aber natürlich sofort nach entsprechenden Regelmäßigkeiten und werde fündig. Das beginnt mit der Handhabung von Prolog und Epilog, die, verglichen mit 2721, ebenfalls geteilt sind, aber in je zwei Abschnitte mit übersichtlichem Handlungsbezug. Die folgenden drei Kapitel stellen Planungen dar und das Zusammentreffen der handelnden Personen. Nur durch die Überschriften wird vermittelt, dass innerhalb der Fiktion zwei Wochen vergehen. Im vierten Kapitel kommt der Höhepunkt, in den drei folgenden geht viel kaputt. Das achte, beschriftet mit einem Zeitraum von etwa acht Wochen, erfüllt trotz seines Handlungsreichtums als Nachtrag zum Aufstand der Ertruser in gewisser Weise die Funktion eines Epilogs, dem der echte Epilog folgt, da er die neue Weltordnung nach der Katastrophe andeutet. Reflektorfigur des Epilogs ist Gucky, der die Ereignisse des Romans Revue passieren lässt, um dann mit Neu-Atlantis einen Ausblick in die Zukunft zu geben.

Der Prolog fokussiert auf der erst schlafenden, dann wachen Toio Zindher. Ihr Traum besteht aus einer Herren’schen Version der Ereignisse um Tekeners Tod, der für Toio hinter ihrem Ziel, Bostich, und dem Tod ihres Teampartners Trelast-Pevor zurücktritt. Als Toio aufwacht, folgt nach einer kurzen Orientierungsphase die Begegnung mit Gucky, in der die laufende Suche nach Rhodan und Bostich, Guckys neue Fähigkeiten und Toios Rolle darin explizit thematisiert werden. Genau diese Themen stellen den entsprechenden Handlungsstrang des Romans, der die Kapitel I, IV, VII und den Epilog ausfüllt.
Im ersten Kapitel treffen Toio Zindher, Anna Patoman, Gucky und Orest Athapilly aufeinander. Begebenheiten aus der Vergangenheit verknüpfen sich mit den aktuellen Geschehnissen. Im zweiten Kapitel beginnen der zweite und der dritte große Handlungsstrang: Wir erhalten über Cai Cheung und Arun Joshannan Rückblick auf wie auch Überblick über die politische Situation in der Galaxis und erfahren vom geplanten Aufstand der Ertruser. Im dritten Kapitel schaut sich Cai Cheung die Neo-Ganymed-Baustelle an, der eventuelle Einbau von ZEUT-Trümmern kommt zur Sprache – Relikte einer sehr alten, spannend werdenden Vergangenheit. Dem folgt ein durch die Innenillustration herausgehobenes Gespräch mit dem uralten Homer G. Adams, mit dem sie den Bau eines neuen, geheimen Schiffs bespricht, das eventuell in eben jener Baustelle versteckt mitgebaut werden könnte. Hier kommt Viccor Bughassidow ins Spiel, der finanziert, aber auf Mitsprache verzichtet.
Im vierten Kapitel kommt ein Höhepunkt – die Verleihung des Zellaktivators an Vetris-Molaut. Der Leser verfolgt sie zusammen mit Gucky und Toio, die sie kontrovers bewerten. Gucky hebt Perry Rhodans Vision hervor, mit der er die Menschheit aus den Niederungen ihrer zerstrittenen Machtblöcke rettete, den Atomkrieg verhinderte und den Weg zu den Sternen eröffnete, was Toio als „Anachronismus“ (S.31) abtut, denn sie sieht Molaut als den idealen starken Mann der Milchstraße. Dieses Kapitel steht weit über dem Handlungsverlauf der umgebenden Kapitel, weil die beiden grundlegende Argumente bringen, die über den unmittelbaren Handlungsverlauf hinaus den Wertekanon der Serie an sich thematisieren. Gucky betont, Rhodan sei „kein Heiliger“, aber er „vermittelte den Menschen seine eigene Vision von den Sternen“, habe den Frieden tatkräftig herbeigeführt mit seiner „Vision einer vereinten Menschheit, die Schritt für Schritt zu den Sternen aufbrach, um die Wunder des Universums zu erleben“. Diese Vision habe „die Menschen zusammengebracht. Der gemeinsame Nenner. Sehnsucht. Und der Mut, die phantastischen Träume Wirklichkeit werden zu lassen“ (S.31). Toio hingegen kritisiert Rhodan ironisch als „Übermensch“ und „Heilige(n)“ – sie bezweifelt, dass der Atomkrieg ausgelöst worden wäre. Was beweist, dass der tefrodische Geheimdienst Heft 2 der Serie nicht gelesen hat. Gucky widerlegt diese Falschaussage nicht, aber Toio selbst zweifelt in der Folge ihr Wissen an, um genau die dauerhafte Führung zu problematisieren, zu der ihr Ideal Vetris-Molaut gleich darauf befähigt wird – was Gucky schon weiß, und mit dem er sie konfrontieren möchte, als er daran denkt, die „Bombe platzen“ zu lassen: „Visionäre haben auch immer die dumme Angewohnheit, fremde Visionen bekämpfen zu wollen“, was ihn zum „Anachronismus“ (S. 31) mache, da inzwischen auch andere Terraner Visionen entwickelt hätten.
Gucky verweist auf den Rückzug nach Camelot, Toio kontert mit der dort erfolgten Weiterbewaffnung. Gucky widerspricht ihr mit der Eigenschaft der Zellaktivatoren, die Träger zu verantwortlich handelnden Staatsmännern und Helfern der Entwicklung des großen Ganzen zu machen (vgl. S.31f). Toio erwähnt Tekener, womit Gucky persönlich zornig wird und sich erst wieder unter Kontrolle bringen muss. Dann diskutieren die beiden über Tetris-Molaut und bewerten sowohl das öffentliche Erschießen der Attentäter wie auch den Titel „Maghan“ völlig verschieden.
Die Diskussion bleibt gerade stecken, als Athapilly eintritt, der für gute Laune sorgt und alle von ihren Standpunkten ablenkt. Interessanterweise verwendet Herren hierzu keinen neuen Abschnitt, sondern lässt die Geschehnisse ineinanderlaufen. Vor der Tür, wo Toio sie nicht mehr hört, entlarvt Gucky Athapilly als Emoter, der Gefühle beeinflussen kann, und die beiden diskutieren über die Aussichten, die Gesuchten wiederzufinden. Dies leitet zur nächsten Phase über, traditionell die fallende Handlung vor der Katastrophe.
Das kurze fünfte Kapitel führt den dritten Handlungsstrang weiter, auf den sich auch der Titel bezieht: Der Planung einer neuen Ära durch die Erhebung der Ertruser. Es beginnt mit Lordadmiral Monkey, der TRAJAN und den sich erhebenden Ertrusern, die den von den Onryonen oktryierten Frieden ablehnen. Im zweiten Abschnitt findet sich jedoch ein Einschub: Die unangemeldete Ankunft von 23.000 Arkoniden, die schon auf einer Azoreninsel Land erworben haben und dort siedeln wollen. Ohne weitere Überprüfung stimmt Cheung dem Asylantrag zu. Gleich darauf erfährt sie von ihrem persönlichen Shuttlepiloten aus Kapitel III vom Aufstand der Ertruser, der mit Jubel auf den Straßen Terranias begrüßt wird. Den Regierungspalast erreichen haufenweise Aufforderungen, ebenfalls Schiffe zu entsenden. Der Impetus von Volkes Stimme relativiert sich, als der Shuttlepilot mit „Au Backe“ (S.41) reagiert. Ich kann in diesem Kontext nicht umhin, den akustisch zu Zwecken des Erschreckens der Onryonen eingeblendeten Geysir (vgl. S.40) mit dem berüchtigten „nun Volk steh auf und Sturm brich los“ der Sportpalastrede zu assoziieren. Natürlich nur in dem Ausmaß, als hier emotional gesteuerte Volksbewegungen zum Zuge kommen.
Im sechsten Kapitel schwelgt Gucky in Erinnerungen und philosophiert mit Orest über ihre Erfolgsaussichten, Toio zum Kooperieren zu bewegen. Orest verwendet seine Parafähigkeit, um Toio zu verführen. Als Morgengabe schenkt sie ihm die Information, an welchem Ort sie Rhodan und Bostich sieht. Dieser gibt sie sofort weiter und wirft dann sein Kontaktarmband weg, so dass alles harmonisch scheint: Zwei haben sich gefunden, und die schöne Toio ist auf dem Weg, zur richtigen Seite überzuwechseln.
Im siebten Kapitel kommt es dann auf allen Ebenen zur Katastrophe: Orest konzentriert sich nicht mehr genug und Toio erkennt, dass er sie ausgenutzt hat. Die Ertruser organisieren einen Aufstand, und in der folgenden mörderischen Raumschlacht wird die TRAJAN vernichtet. Die Terraner erkennen, dass sie politisch gar nichts tun können. Im achten Kapitel kommt das Nachspiel: Die Ertruser müssen sich der neuen Ordnung der Onryonen beugen. Und im Epilog geht es um etwas scheinbar völlig unwichtiges, die Ansiedlung der arkonidischen Exilanten, die jedoch durch die Hoffnung auf Atlans Rückkehr und die Anbindung an die Machtverschiebung im Arkonsystem wesentlich an Wichtigkeit gewinnt.

Der Text enthält viel Informationsvergabe zu den Ereignissen der Vorgängerromane, die aber nie einfach so eingefügt, sondern immer sorgfältig in die Handlung eingebaut sind, indem Gucky oder Arun Joshannan über alles nachdenken. So wie die Bekanntgabe technischer Daten zur GALBRAITH DEIGHTON als Auflistung, die Anna Patoman als Mittel zur Vermeidung eines persönlicheren Gesprächs (vgl. S.12) einsetzt oder die knapp eingestreute Definition von TIPI (vgl. S. 11f) im Kontext persönlicher Vergangenheit. Da der Atopische Zyklus sehr schnell ist, kann es wirklich nicht schaden, mal alles zusammengestellt zu lesen, indem die Protagonisten sich erinnern, darüber nachdenken oder die zukünftigen Schritte planen.
Außerdem schätze ich die funktionierenden Gegenstände, wie den Gedanken berechnenden Spielzeuggucky, das Gepäck, das seinen Weg alleine findet und das Arbeitszimmer, das bei Annäherung die Tür öffnet.
Was ich an Herrens Darstellungsweise besonders mag, ist sein Umgang mit expliziter und impliziter Charakterisierung, die einander ergänzen, manchmal sogar entlarven, ohne dass die entstehende Diskrepanz allzu eindeutig würde. Und die tatsächlichen Sachverhalte letztendlich in der Schwebe bleiben. Eingebettet in übersichtliche, aufeinander bezogene Strukturen.
Wenn etwa nach dem wichtigen Gespräch über das zukünftige geheime Raumschiff erst das Gespräch „(ab)driftet (S.29) und gleich im nächsten Absatz Adams und Leccore mit knappem Gruß und explizit wortlos aneinander vorbeigehen. Oder wenn Gucky über Orest Athapillys Bemühungen um Toio sagt, er „scheint an ihr persönlich interessiert zu sein“ (S.30), bald aber bedauert, dessen Gedanken nicht klar genug lesen zu können, um die Situation einschätzen zu können. Der Leser teilt Toios Wahrnehmung von Orests Vitalenergien, die nicht lügen können, sieht ihn durch Guckys Augen einen Becher synthetischen „Warabi-Extrakt“ (S.42) trinken, der eine aphrodisierende Wirkung haben soll. Als Gucky andeutet, Orest habe „seinem Besten“, das er tun will, nachgeholfen, denkt man natürlich kurz und beiläufig ans „Dinner for one“. In dem Zitatwitz geht fast unter, dass Gucky erwähnt, alles müsse „wie vorgesehen klappen“ (S.43). Ebenso wie fünf Seiten vorher Guckys Bemerkung, ihm reiße der Geduldsfaden und er werde eventuell keine andere Möglichkeit haben, als Toio Paragabe und Leben zu entreißen, derart existentiell ist, dass sie nicht unbedingt als Aufforderung an Orest verstanden werden muss, dem Ernst der Situation entsprechend zu handeln, weil man eher über den veränderten Gucky nachdenkt. Als Orest sein Weinglas so ungeschickt abstellt, dass es umfällt, kann dies verschiedene Gefühle ausdrücken. Auch als sein Betrug auffliegt, bleibt offen, in welchem Maß er sich trotzdem wirklich für sie interessiert. „Zielpunkt Morpheus-System“ (PR 2638) beginnt mit einer vergleichbaren Szene, zwar ohne Intrige, doch ebenfalls einer dezent dargestellten Liebesszene bei ausgeschalteter Ausschaltung der Überwachung durch die Positronik, und ebenfalls mit einer rothaarigen Frau. Die übrigens, wie Anna Patoman bei Toi Zindhers Ankunft, über inkompetente Männer nachdenkt.
Nachdem in den Romanen vor und zwischen „Paradieb“ und „neuer Ära“ einige recht blutige waren, bei denen eklige Handlungselemente mit bewusst schmutzig gestalteten Personen einher gingen, fällt mir besonders auf, dass in keinem dieser beiden Romane das Zwielichtige ins Enge, Schmierige abgleitet. Ob Athapilly sich für den Mata-Hari-Orden erster Klasse qualifiziert hat oder mit welcher Rechtfertigung Gucky ethische Grenzen überschreitet, indem er bewusst den Tod der Gefangenen in Erwägung zieht, sei dahingestellt, aber die Charaktere werden nicht abgewertet.
Anna Patoman wurde mir hier erstmals richtig sympathisch, weil sie authentisch als warmherziger, temperamentvoller Mensch mit Teetasse beschrieben wird. Hier überzeugt sie, angefangen bei ihrer kompetenten Gesprächsführung mit Toio (vgl. S.11) – bisher war sie mir, wie bei der Auseinandersetzung mit dem arroganten Tefroder in 2700, zu sehr als aufbrausender Trampel erschienen, der vor lauter nicht öffentlichkeitstauglichen Meinungen in jedes offene Messer rennt. Schon deshalb, weil die allzu auffällige Formulierung von ihr selbst verwendet wird, und zwar im Kontext des Märchens von Hänsel und Gretel, dass ihrer Ansicht nach nicht für Kinder geeignet ist, wodurch sich Abstand aufbaut.

So wie die Aufmerksamkeit der Protagonisten von Gegenständen zu Personen wandert, von Erinnerungen in die Gegenwart, so ergänzen sich bei Herren die Stimmungen. Ein besonders schönes Beispiel sei aus 2712 entnommen, der beginnt: „Der Wind wehte müden Regen gegen das Glassit der Panoramascheibe. In lang gezogenen Schlieren rann er herab, bis er vom Reinigungsfeld erfasst und der Wasserversorgung des Solaren Hauses zugeführt wurde.“ Sie beschreiben nicht nur das Wetter, sondern auch die Stimmung Cai Cheungs, ich mag die Spiegelung von innerer in äußere Realität, die Herren immer wieder verwendet, ebenso wie das Überblenden von technischen und natürlichen Elementen.
In 2727 nutzt Herren vor allem die Erinnerungen aller und telepathischen Fähigkeiten zweier Protagonisten, um diese Überblendung zu erzielen. Und zwar nicht nur zur komplexen Darstellung aus mehreren Perspektiven, sondern auch, um Personen und Abschnitte miteinander zu verknüpfen. Eine derart enge Verbindung der Protagonisten untereinander kenne ich eher von Arndt Ellmer, der aber nicht über mehrere Perspektiven arbeitet, sondern über sprachliche Signale wie Wortfelder oder Gleichklang arbeitet und Kreisszenarien aufbaut, innerhalb derer alles aufeinander bezogen ist. Herren arbeitet in diesem Roman neben den Subtexten, zu denen wir noch kommen werden, über Gedanken, Wiederholungen aus anderer Perspektive, Erinnerungen und verhaltene, tief sitzende Gefühle, wie Guckys Hass gegenüber Tekeners Mörderin, der von seinen humanistischen Werten in einer fragilen Schwebe gehalten wird, die aber in äußerst knapper Darstellungsweise aufscheinen wie in jenem kurzen Dialog, als Athapilly ihn in der Gewaltlosigkeit bekräftigen will mit den Worten „Du bist kein kalter Mörder“ und Gucky nichts entgegnet als: „Ich weiß es nicht“ (S.14).
Außerdem verwendet er das Betreten, Verlassen und Abgrenzen von Räumen – was in weit ausgeprägterem Maß bei William Voltz zu finden war, der das Erkennen eines Raumes, das Erringen des Zugangs und das eigentliche Betreten in ganz hohem Maß verwendet hat, um seine Abläufe zu gestalten – was vielleicht in wesentlichem Maße die optimistische Grundstimmung seiner Werke beförderte.
Ein Beispiel für die Vorgehensweise Herrens ist Toios Aufwachen, das Wahrnehmen ihres Zustandes, ihre Bestandsaufnahme, ihre Beobachtung, dass sich das Leuchtfeuer eines Aktivatorträgers nähert, der Gucky sein muss. Dann setzt sie sich bewusst in Positur. Gucky, der sie an ein kitschiges Spielzeugtier erinnert, während sie zugleich sein wahres Alter und seine Persönlichkeit wahrnimmt, betritt das Zimmer. Die beiden sprechen über den Status Quo und die Vergangenheit, an die sie sich gerade erinnert hat, und Gucky erklärt ihr genau, was er ihr gegenüber empfindet, welche Gefahr er für sie darstellt, während sie detailliert über ihre Strategien ihm gegenüber nachdenkt. In der Folge entspinnt sich die Handlung, in der es um eben jene Gefahr und Toios Mithilfe geht, durch die sie sich rettet. Gucky reagiert nicht auf Toios Strategien, mit denen sie Menschenmänner fasziniert, und er weiß das.
Gleich darauf wiederholt sich der Ablauf mit einer anderen weiblichen Hauptperson: Anna Patoman erinnert sich auf dem Weg zum in ihrem Arbeitszimmer wartenden Gucky an ihren Spielzeuggucky, eine Maschine, die die Gedanken eines Kindes treffsicher genug berechnen konnte, um dem Kind Telepathie vorzugaukeln. Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt. Sie erwartet eine Enttäuschung, aber Gucky hat wirklich ihre Gedanken gelesen und bringt sie zum Lachen, so dass sich die beiden sofort blendend verstehen. Auch sie spürt seine Wärme ebenso wie seine Trauer. Bald darauf trifft Orest ein, den sie ebenfalls aus ihrer persönlichen Vergangenheit kennt. Während Orest im „Paradieb“ als Arztkollege und Betreuer von Jugendlichen in Erscheinung trat, ist er hier ein richtiger Erwachsener, der tut, was Erwachsene den Jugendlichen nicht sagen. Anna kennt ihn aus der Zeit ihrer gescheiterten Ehe, er kennt ihre ganz dunklen Zeiten, deshalb vermeidet sie tunlichst das private Gespräch. In der Folge baut sich seine zwiespältige Beziehung zu Toio auf.
Auf der großen Ebene der Rahmenhandlung kommen gleichzeitig die Verwendung der uralten ZEUT-Trümmer beim Bau von Neo-Ganymed, die geheimen Planungen des uralten Homer G. Adams und die Unterwerfung der vertrauten alten Ertruser-Siganesen-Kopplung unter die Atopische Ordo ins Spiel, so dass auch hier Vergangenheit in der Gegenwart aktualisiert wird.
Gucky selbst zeigt seine alte Persönlichkeit als lustiges lebendes Spielzeug und Spaßmacher ebenso wie seine neuerdings betonte Fähigkeit zum Planen, zu Geheimnissen und zum Durchgreifen, die es vor 2700 gab, die aber immer wieder zügig überdeckt wurden vom lustigen, anhänglichen Gucky. In den Passagen, in denen er in Erinnerungen schwelgt, kommt durch Namen, Geschichten und „Originalsprache“ das gute alte Rhodan-Feeling auf. Im zentralen vierten Kapitel wird er dann über den Text hinaus zum Sprachrohr für Ideen der Autoren und Leser, als er Rhodans Lebensleistung bewertet und überlegt, ob die Atopen bleiben oder zum Ende des Zyklus wieder abgeschafft werden.
Ein weiterer Bereich, in dem Herren mit Aussparungen arbeitet, ist die Raumschlacht. Nach einer umfangreichen Darstellung der Vorbereitungen, aus denen hervorgeht, dass wir es mit kompetentem Personal und klaren, funktionierenden Kommandostrukturen zu tun haben, erfolgt die Schilderung des Untergangs der TRAJAN – gar nicht. In der Art eines Botenberichts erfahren wir Details des Nachher, dass etwa Monkey in einem Fesselfeld von Bord geholt werden musste und wie die Bergung der Überlebenden ablief. So bleibt die Erzählung im Rahmen des bühnentechnisch Möglichen. Berichtet wird, wann man konkret beschreiben kann.
Erst erinnerte mich diese Reduktion an jene mir unsympathischte Neigung im Neuroversum-Zyklus, allerdramatischte galaktopolitische Handlungen in den Hintergrund zu drücken, während die Hauptpersonen mit irgendetwas Privatem beschäftigt sind, so dass man vor lauter persönlichem Kram kaum was vom Wichtigen mitbekommt. Dann dachte ich an jene paar unappetitliche, gewalttätige Romane, die ich vor kurzem mit großem Widerstand gelesen hatte und verzichtete dankend auf eine detaillierte Schilderung des Untergangs. Drittens spielt sich eine Raumschlacht in derart großen Räumen mit derart wenig Sichtbarem ab, dass das Darzustellende auf jeden Fall auch wieder Ausschnitte gewesen wäre mit fragwürdiger technischer Authentizität. Außerdem waren die Personen eben nicht derart mit ihrem Gefühlsleben beschäftigt, dass sie die Zusammenhänge darüber vergessen hätten. Also liegt hier ein anderer Fall vor.

Weitere Vernetzungen über unterschwellige Subtexte sind etwa Joshannans Überlegungen, er müsse ein „leuchtendes Beispiel (S.15) darstellen, nachdem es im ersten Handlungsstrang ständig um das Leuchten der Vitalenergien von Verliebten und Zellaktivatorträgern geht. Herren scheint gerade Zahlen deutlich zu bevorzugen, die wenigen ungeraden Zahlen hat er den „Bösen“ (vgl. S.39) zugeordnet und den Geheimnisvollen (vgl. S.40) Dies zieht sich aber nicht durch den ganzen Text.
Dann das Märchen von Hänsel und Gretel, durch das die Metapher von der „Brotkrumenspur“ und „Kieselsteinspur“ (S.13f) in die Handlung eingeführt wird und in der Folge immer wieder zur Sprache kommt. Ebenso der dezente Gleichklang von „Viccor“ (S.29) und „Vektor“ (S.30) auf einanderfolgenden Seiten.

Herrens Farbadjektive weisen ein interessantes Eigenleben auf. Mal abgesehen von überraschenden Zuordnungen wie dem „schwarzen Sichelkamm“ (S.20) des Ertrusers – die waren doch immer sandfarben, jedenfalls bei idealen, gut aussehenden Ertrusern wie Melbar Kasom, oder? Und der Onryone besucht den Ertruser „im khakibraunen Gewand“ (S.38), nicht in einem der typischen schreiend bunten Gewänder. Während sein Emot äußerst aktiv ist – die Eigenschaft dieses Organs, Gefühle durch sichtbare Signale auszudrücken, kommt Herrens Darstellungsweise entgegen. Im Laufe des Gesprächs ist es hochaktiv: Es „verfärbte sich hellgrün und zitterte“, nahm „einen dunkelgrünen Farbton an“, und „verfärbte sich kalkweiß“, zu Gasparans Freude: „mit Genugtuung registrierte (er) das Zittern von Ghuttcuyrs Hinterkopfohren“ (S.39f). Während in der Folgeszene die als weiß-schwarz etablierten Go-Steine Cheungs betrachtet werden, ehe der Exil suchende Arkonide „im blütenweißen Gewand“ mit „albinoroten Augen“ (S.40) erscheint, so dass die Szenen auch farblich klar voneinander abgehoben wurden. Rot, Weiß und Schwarz dominieren auch die Verführungsszene und die Attacke auf Athapilly im Krankenzimmer, dessen Umfeld grau, „silbergrau“ und „bläulich“ (S.40) abgegrenzt auftritt. Auch Anna Potoman hat „mit grauen Fäden durchzogene(s) Haar“ (S.30), und sie bildet einen funktionierenden Schutzraum.
Während das „goldene Leuchtfeuer“ (z.B. S. 44), als das Toio die Aktivatorträger wahrnimmt, immer wieder die Richtung des Geschehens bestimmt. Goldfarben sind aber auch die Augen der Onryonen.
Monkeys Augenimplantate sind „anthrazitfarben“ (S.21), Adams Augen „blassgrau“ (S.28), das Gesicht des Tesquiren „silberblau […] mit den hieroglyphenähnlichen Bildern“ (S.39). Die Greifzungen des Cheborparners UFo, der „rot glühende“ (S.23) Augen hat, „ringelten sich wie kleine rote Schlangen“ (S.23) – mit eben diesen macht er später, anlässlich der Niederlage, eine beleidigende Geste, die ohne Folgen bleibt, weil die Onryonen sie nicht verstehen.

So verwendet Herren Bündel von Farbeindrücken, um Räume zu etablieren, und Themen zu kennzeichnen. Zusammengesetzte Farbadjektive dienen der reinen Deskription. Der auffällige farbige Vergleich ist Teil dreier Themen – rot für den Widerstand gegen die Atopen, die Schlange für die Pläne und Intrigen und die Zeichnung der Cheborparner als Teufel, die die weit gespannte galaktopolitische Ebene durchzieht – vertraute, freundliche Teufel stehen gegen die Eindringlinge.
In seiner Reaktion auf die Erstversion dieser Analyse wies Herren auf ein weiteres Detail hin, warum er nämlich UFos Sekretär Fydolormirhan Fandorycze genannt, abgekürzt FyFan genannt habe. Fy fan ist ein schwedisches Fluchwort und lautet übersetzt zum Teufel. Auf den khakifarbenen Onryonen ist er leider nicht eingegangen.
Ebenso ergänzte Herren, warum Toio mit einen aufwändig gefalteten Papier angreift statt mit bloßen Händen – er habe das Buch gewollt, „Cyrano de Bergerac; das Wort, das zur Waffe wird; zu einem nasenähnlichen Dreieck gefaltet, das den (falschen) Verführer töten soll.“ Ich war darauf nicht eingegangen, weil ich keinen Bezug fand. Nun beschäftigt mich an dieser Aussage, wie das entsprechende Dreieck läuft – Bergerac hatte für einen schönen Mann Briefe geschrieben, die seine eigene Liebe zur gemeinsamen Flamme ausdrückten. Wer schreibt Athapillys Text? Wer ihn zum Handeln zwingt und die Regie mit ihm bespricht, ist Gucky.
Bei Thurner (PR 2728) ist sie explizit gierig und andererseits sehr frustriert, sehr zornig. Guckys Befragungen empfindet sie explizit als Vergewaltigung – obwohl er nichts anderes tut als sie selbst, nämlich in die innere Welt anderer eindringen. Bei Herren, der den Beginn ihrer Gefangenschaft darstellt, ist sie noch ihr lebenslustiges Selbst samt Autoritätsorientierung – sie ordnet sich gern dem Stärksten unter, ergreift vorbehaltlos seine Partei und ist als wirklich schöne Frau daran gewöhnt, hervorragend behandelt zu werden.
Gucky ist auf dieser Ebene immun, sie kann ihn nicht rumkriegen. Aber sie fühlt sich von ihm von Anfang an angezogen, schon als sie im Prolog spürt, wie ihre Härchen sich aufrichten "als würden sie sich geradezu nach Guckys Nähe sehnen" (S.8) – und das, während er droht, sie durch seine Berührung zu töten. Dieselbe Ambivalenz findet sich auf den ersten Seiten von Thurners "Gefängnisplanet“, sie scheint also vom Exposé vorgegeben. In der gleichen Linie steht Uwe Antons befremdliche Vision der kranken Ellendea Lon, die sich im Trugbild einer Mausbiberkolonie wieder findet und bedauert, dass sie alle kein Interesse an ihrem Körper zeigen, denn „Mausbiber sollten begnadete Liebhaber sein […] aufgrund ihrer telekinetischen Fähigkeiten“ (PR 2715, S.32). Die Anziehung zwischen Gucky und Toio ist subtiler, und es geht auch um einen Seitenwechsel zu den Guten. Während Gucky ebenso ambivalent mit den Möglichkeiten liebäugelt, die ihm das Böse eröffnet.
Weitere kleine Nebenmomente finden wir im Knacken von Monkey Hals, „als wäre der Ast eines knochigen Baumes gebrochen“ (S.22) – kann man das als Vorankündigung der kommenden Niederlage verstehen? Und ist die Beschreibung des „zweigdürren Tesquiren“ (S.38) dann nur rein deskriptiv? Auf das eruptive Gelächter des Ertrusers mit seinem eingeblendeten Geysir sind wir schon eingegangen.

Insgesamt würde ich Marc A. Herrens Schreibart vor allem als sorgfältig, gründlich und gut verknüpft beschreiben, mit kleinen, unterhaltsamen Details, die aber stets der Handlung untergeordnet bleiben. Beruhigend. Es hat sich immer wieder ergeben, dass ich gerade seine Romane tief in der Nacht lese, wenn ich nicht schlafen kann – also zwischen zwei und vier Uhr. Und am Schreibtisch oder am Küchentisch, also auf Holz. Reiner Zufall, ergibt sich aber immer wieder so. Ich setze mich gerade hin, wenn ich seine Texte lese. Vielleicht, weil die Figuren bei ihm disziplinierter sind als bei anderen Autoren. Oder weil alles so schön geordnet erzählt wird.
Der Grund für das späte Lesen liegt noch woanders: Er bevorzugt Protagonisten wie Saedelaere, Shoulubwa und interagierende Superintelligenzen, mit denen ich nicht so richtig was anfangen kann. Meine Lieblinge unter seinen PRs sind „Geheimnis der Zirkuswelt“ und „Die Attentäter von Luna City“.
Zuletzt geändert von Slartibartfast am 31. Dezember 2013, 15:55, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: Auf Wunsch der Verfasserin entspoilert
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Ohne Alraskas erneute Nachfrage und MAHs soliden Text als Kontrastmaterial hätte ich diese Analysee (wie Odyssee) nicht fertigbekommen - danke!



„DER PARADIEB“ ODER: DIE APOTHEOSE DES PERFORMANCEKÜNSTLERS



I. Die Einleitung
Spoiler:
I. Die Einleitung
Leo Lukas verfasste "Der Paradieb"als Heft Nr. 2721 der Perry-Rhodan-Serie. In diesem Heft erwacht Gucky aus dem unerklärlichen Koma, Folge des Versuchs, den Repulsor-Wall um den von der Technokruste der Onryonen überwuchterten Erdmond zu durchdringen. Im TIPI lernen wir viele junge Mutanten kennen, von denen zwei sterben. Im zweiten Handlungsstrang geht es um die Infiltration der „vier Eroberer“ des tefrodischen Mutantencorps, die auf die Erde wollen, um Zellaktivatorträger zu jagen. Der Roman spiegelt Guckys Abschied von der Existenz als ewiges-Kind im Teenagerleben, lässt den alten Spruch vom "Überall-zugleich-Töter" Wirklichkeit werden und Gucky die Schwere des Alltags spüren.
Leo Lukas ist bekanntermaßen vor allem geistreich, witzig, und verspielt. Jemand, der für alles andere beliebt ist als die Darstellung von tiefen Gefühlen. Deshalb habe ich bei der Bestandsaufnahme die klassischen Schwerpunkte erweitert, welche da sind: Welche Struktur hat der Roman? Welche inhaltlichen Aspekte spiegeln sich in diesem Aufbau? Wie stellt der Autor Settings, Protagonisten und Emotionen dar, wie setzt er Farben ein und wie fließt diese Tendenz in die Darstellung von Guckys Wandlung ein? Hinzu kam in diesem speziellen Falle die Fragestellung: Wie geht Leo Lukas mit Gefühlen um? Nach ein paar ersten Überlegungen wurde daraus meine Fragestellung: In welcher Weise findet sich im Erzählten die Selbstdarstellung eines Bühnenkünstlers?
Als Interpretationshypothese folge ich meiner spontanen Einschätzung, welche war: Emotional ist Lukas nicht, dazu erzählt er zu stark über Bewusstseinsvorgänge, es läuft alles über die Kopffilter der Erzählerfiguren. Allerdings wird dadurch der Zugang zur Intuition frei. Viele Menschen kennen das: dass man weiß, was bei jemandem läuft, ohne ihn zu sehen, oder dass man jetzt gerade dringend irgendeinen bestimmten Weg man nehmen muss, oder dass einer kommt, an den man denkt, wenn man eben in diesem Moment keine starken Emotionen hat, die die Intuition verschleiern. So wie ein Lehrer die Stimmung in einer Klasse in einem ganz Moment erfasst, um sein Auftreten, die erste Anrede entsprechend steuern zu können, oder ein Performancekünstler die feinen Stimmungsschwankungen seines Publikums mitbekommen muss, jenseits von Erwartung und Befürchtung, um adäquat reagieren zu können. Deshalb die Idee einer Parallelisierung von Paradieb und Performancekünstler.
Lukas lässt verschiedene Wahrnehmungsebenen, Lebensbereiche ineinander laufen, aber der Roman scheint in zwei Hälften zu zerfallen. Die erste Hälfte plätschert scheinbar unbeschwert dahin, dann kommt der Umschwung in Tragik, Leid und Tod. Dies deckt sich mit dem Thema von Guckys Verwandlung. Lukas hat in hohem Maße den "echten" Gucky weitergeführt in seiner charakteristischen Sprechweise, seiner Zutraulichkeit, seiner Warmherzigkeit und seinem Geltungsdrang. So unheimlich viel ist gar nicht neu. Seine Schuldgefühle beim Töten gab es auch in "Die Informationsjäger" (2637) von Ellmer.
Neu ist seine Hilflosigkeit, die ihn zu härteren, in diesen Roman verhängnisvollen Maßnahmen greifen lässt, so dass er bewusste Gewalt nicht mehr ausschließt – das kommt aber in den Folgeromanen stärker raus. Neu ist auch das Ineinanderfließen von nachahmender Bewunderung und Gefressenwerden, das den großen Bruch in Guckys Leben kennzeichnet. Leid tun mir die Teenager nicht, so sympathisch sie sind, das ist der Vorteil an Lukas' Erzählweise. Der Butler auch nicht. Lukas arbeitet zu stark über Perspektiven, um echte emotionale Intensität herzubekommen, und er stilisiert Situationen, die andere Autoren finsterer und blutigerer schildern würden. Das ist offensichtlich eine bewusste Entscheidung.
Wie die tabellarische Auflistung der Einzelepisoden zu Beginn der Analyse zeigt, kann man im Text ertrinken. Zu viele Einzelverweise in alle Richtungen, zu viele Wortspiele. Außer man fliegt. Die Luft ist Leo Lukas’ ureigenstes Medium, und der Zugriff auf den Roman wird deshalb am leichtesten aus der Kranperspektive möglich, indem man von ganz weit oben gezielt Einzelaspekte rausholt, sich immer wieder aus der Erdenschwere der Fiktion löst. Ob man den Autor deshalb als Luftikus bezeichnen kann oder die Vermutung aufstellen, dass sein Name vom ebenfalls alliterierenden Peter Pan abgeleitet sein könnte? Jedenfalls brauchte ich, was man am Verlauf des Hauptteils leider nicht so merkt, die Arbeit am ruhigeren, solideren und in hohem Maße mit diesem Roman verbundenen „In eine neue Ära“ von Marc A. Herren, um den Absprung zu schaffen, um auf der Basis einer parallelen Untersuchung diese Analyse hier fertigzustellen. Denn mein Element ist die Luft überhaupt nicht.
Typisch Lukas’sche Eigenheiten finden wir in den vorangestellten Zitate und den komplexen Kapitelüberschriften, die innerhalb des Kapitels die thematische Bindung für viele kleine Einzelszenen liefern. Als ich mir wahllos einige Lukas-Romane als Hörbücher holte, fiel mir erst auf, in welch hohem Maß er mit Teenagerbiographien arbeitet. Typisch für ihn sind die klaren Farben und Formen, das Enzyklopädische, die charmanten Lumpis unter den Hauptfiguren und das luftige Fliegen.
II. Der Roman


II. 1. Aufbau
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II. 1. Aufbau
Nach drei vorangestellten Zitaten und einem Prolog wurden zwei Handlungsstränge ineinander geschlungen: Die Infiltration der tefrodischen Mutantengruppe um Toio Zindher auf Terra, was die Folgeromane von MTT um Ronald Tekeners Tod vorbereitet, und Guckys Wiedererweckung durch junge Mutanten – dieser Strang besteht aus zwei Abschnitten mit grundverschiedener Stimmung, voneinander getrennt durch die Hotelepisode der Tefroder. Entsprechend gibt es auch zwei Epiloge, einen für die Tefroder und einen für Gucky. Datiert sind fünf der acht Kapitel und einer der Epiloge.

Im Überblick (Datumsangaben innerhalb von 1514 NGZ):
Abschnitt Seiten - Unterabschnitte - Handlungsstrang
Titel: Der Paradieb 1 - 1 - Gucky – indirekt Tefroder
Vorangestellte Zitate 4 - 3 - Vor allem Gucky
Prolog: Die Seherin 4-9 - 8 - Tefroder
Kap. 1: Der Seher. 28. 8. 9-13 - 4 - Ärzte/ Jungmutanten
Kap. 2: Eine Idee. 29. 08. 13-17 - 3 - Ärzte/ Jungmutanten
Kap. 3: Blitze und Schatten. 31. 08. 17-23 - 8 - Ärzte/ Jungmutanten/ Gucky
Kap. 4: Frühstück mit Knalleffekt. 1.09. 23-29 - 8 - Tefroder
Kap. 5: Böses Erwachen 29-39 - 6 - Ärzte/ Jungmutanten/ Gucky
Kap. 6: Rückkopplung 39-46 - 8 - Ärzte/ Jungmutanten/ Gucky
Kap. 7: In der Unterwelt. 2. 09. 46-50 - 5 - Tefroder
Kapitel 8: Hand aufs wunde Herz 50-56 - 6 - Ärzte/ Jungmutanten/ Gucky
Epilog I: Die Verfolger 56-57 - 3 - Tefroder
Epilog II: Der Getriebene. 2. 09. 58-59 - 2 - Gucky/ Ärzte/ Perry Rhodan

So kommen wir auf 64 Episoden, die weitgehend in zeitlicher Reihenfolge ablaufen und sich thematisch Oberbegriffen unterordnen. In der ersten Hälfte dominieren Sehen und Ideen. Das „Frühstück mit Knalleffekt“ beinhaltet neben dem sinnlosen Tod eines testosterongetriebenen Butlers das Geheimsignal der Tefroder, das ihre erfolgreiche Ankunft nach Hause meldet. Es ist der Höhepunkt des ersten Handlungsstrangs. Der zweite, „Böses Erwachen“, gipfelt in Guckys Rückkehr aus dem Koma und seinem jähen Fall – vom allseits verehrten Retter des Universums zum, wie er sich selbst erlebt, unnützen Plüschtier. Danach geht es in der Erzählung zwar immer noch um Perspektiven, aber die Kapitelüberschriften sind düster, klingen nach Tod und Verletzung. Jeder der beiden Handlungsstränge hat also einen eigenen Höhepunkt und einen Epilog.
II.2. Vorangestellte Zitate
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II.2. Vorangestellte Zitate
Die Zitate von Theodor Fontane, Gabriel Gray aus „Heroes“ und von Ralph Waldo Emerson werfen Schlaglichter auf den Handlungsverlauf, sie dienen als Vorankündigung der inneren Handlung: Schuld, Verwandlung und Tod. Und damit um Guckys Verwandlung.
Das Fontanezitat stammt aus dem frühem Roman „Graf Petöfy“, einem Vorläufer der „Effi Briest“, und wie so oft bei Fontane geht es um den Konflikt einer jungen Frau, die innerhalb der Gesellschaft an einen Platz geraten ist, der keinem der Beteiligten gut tut. Sie hat sich selbst falsch eingeschätzt, einen zu alten Mann geheiratet und sich dann wider Willen in einen jüngeren verliebt. Als Graf Petöfy sein Scheitern einsieht und seiner allzu jungen Frau verzeiht, um ihr anschließend durch seinen Freitod den Weg in ein altersgemäßes Glück frei zu machen, zieht er das Fazit:
„Es tut nie gut, sich in künstliche Situationen hineinzubegeben und sich auszurechnen, wie's kommen müsse. Die Rechnung stimmt nie. Wir kennen uns nie ganz aus, und über Nacht sind wir andere geworden, schlechter oder besser. Schlimm, wenn wir uns schlechter finden, aber oft schlimmer noch, wenn besser. Es gibt dann ein Wirrsal, draus kein Entrinnen ist, und dass wir […] das Leben ernsthafter zu nehmen anfingen, als es geplant war, das entscheidet nun über mich und vielleicht auch über sie.“ (Fontane: Graf Petöfy, Kapitel 34)
Dem Gucky dieses Romans entspricht nicht nur die Wirrsal, sich beim Aufwachen als ein anderer vorzufinden, sondern auch der Konflikt zwischen Alter und Jugend. Von Anfang an als Kinderfigur beliebt wie kritisiert – Stichwort „Weltraumratte“ – ist er auch einer der Unsterblichen, die in diesem Abschnitt der Serie erst mal die Bühne frei machen müssen. Für einen neuen Unsterblichen, wie wir seit 2726 wissen. Im Fall Gucky erleben wir den Versuch eines Reset: die alte Figur soll durch gewisse Veränderungen modern gemacht werden. Keine Kinderfigur mehr sein. Erwachsen werden.
Gabriel Gray alias Sylar entstammt der Serie „Heroes“. Es handelt sich bei ihm um einen Serienmörder, der genetisch weiterentwickelte Menschen jagt, um sich ihre besonderen Fähigkeiten anzueignen. Das Origininalzitat lautet: “And before the night is over, I'm gonna prove to you - one by one - that you're all monsters - exactly like me” (zum Kontext vgl. http://www.imdb.com/character/ch0015540/quotes), das Sylar im Rahmen seiner Identitätskrise um Selbstdefinition, Reue um verübte Morde und Selbstfindung formuliert. Auch sein Thema ist das Besonderssein.
Diese Serie führt paranormale Fähigkeit auf genetische Veränderungen zurück, andererseits kann Sylar sie einfach so übernehmen. Seine Opfer sterben. „Heroes“ ist actionreich, brutal und voll mit Gewaltszenen. Elemente, wie wir sie in diesem Abschnitt des Zyklus in einem für PR ungewöhnlichen Ausmaß finden. Gucky unterscheidet sich von Sylar durch die Absicht – die Taten geschehen und er ist völlig entsetzt, kann sich selbst nicht verzeihen.
Das dritte Zitat stammt vom amerikanischen Transzendenzialisten Ralph Waldo Emerson: “From the ruins of our despair we build our character.” Lukas nahm nicht das ebenfalls auf gängigen Websites verfügbare: „Unser größter Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen“. Denn als Mörder seiner Bewunderer kann Gucky nie mehr sein, der er war, und er muss einen Weg finden, mit dieser Schuld zu leben, es gibt kein Zurück.
Emerson reiste 1832 nach Europa und lernte auf dieser zweijährigen Reise die englischen Romantiker kennen, beschäftigte sich auch mit dem deutschen Idealismus und der indischen Philosophie. Sein Schluss: Der Mensch lebt am glücklichsten im Einklang mit der Natur, welche die wahre Quelle göttlicher Offenbarung ist. Das von Lukas verwendete Zitat spricht vom zerstörten, verzweifelten Menschen, der in der Auseinandersetzung seine Persönlichkeit aufbaut. Dies ist es, was Gucky tun muss.
Ein anderer populärer Emerson-Spruch entspricht Shadin, die ihm trotz eigener Trauer dabei hilft: „Glück ist ein Parfüm, das du nicht auf andere sprühen kannst, ohne selbst ein paar Tropfen abzubekommen.“ (http://zitate.net/ralph%20waldo%20emerson.html)
II.3. Prolog
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II.3. Prolog
Der Prolog (S.4–9) hat den Titel: „Die Seherin“. Er beginnt geheimnisvoll, eine Familie nimmt das „Ende ihrer Existenz gelassen hin“ (S.4). Nur der Elfjährige begehrt auf. Dieses Ende entpuppt sich als Teil eines Langzeitplans, in dessen Rahmen diese Leute einige Jahre luxuriös leben konnten, um jederzeit ihren Platz freizumachen für das vierköpfige tefrodische Mutantenteam, das eingeschmuggelt werden soll. Satafar erscheint als Kind, das echte Kind ist ein verwöhntes Balg, seine Mutter ist bereit, es mit in den Tod zu nehmen. Die Reise der Tefroder nach Terrania hat begonnen.
Alle acht Abschnitte werden von Toio Zindher in der Ich-Form erzählt und lebhaft kommentiert. Toio weiß nicht nur Bescheid, sondern sieht als Vitaltelepathin die Lebensenergie anderer Lebewesen als Licht. Teile ihres Berichts stehen im Präsens, was den Leser besonders unmittelbar einbezieht – so als stünde er neben ihr und höre ihrem Geplauder zu.
Erst wird die Luxusresidenz in Cosmoledo-Orbital beschrieben, benannt nach dem Seychellen-Atoll. Die Art des Einschmuggelns der Tefroder als „blinde Passagiere“(S.4), ein Wortspiel, das Toio innerhalb der Erzählebene macht, dann das Schicksal der Familie: Sie müssen sich eine ganz neue Existenz aufbauen – ausgiebig beschreibt Toio die Luxusresidenz, die sie als Preis für ihren Einsatz ein paar Jahre bewohnen durften. Dann plaudert Toio über die anderen Mitglieder der Gruppe, ihre Fähigkeiten und neuen Namen, unterbrochen von einer Beschreibung des kitschigen, überladenen Wohnzimmers voll Remineszenzen an die Seychellen.
II.4. Verflechtung der Handlungsstränge im Setting der Tefroder
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II.4. Verflechtung der Handlungsstränge im Setting der Tefroder
Die Titel des Prologs und des ersten Kapitels sind einander kontrapunktisch zugeordnet, denn er lautet: „Der Seher. 28. August 1514 NGZ“. Somit verknüpft Lukas die beiden Erzählstränge und hebt zugleich ihre Gegenläufigkeit hervor – ihre Absichten sind einander entgegengesetzt. Über die Datumsabgaben sind sie in ein Erzählkontinuum eingebettet. Da die Handlungsstränge einander nie berühren, werde ich sie separat abhandeln. Somit gehen wir erst mal die Tefroderhandlung ab: Vom Prolog zum vierten Kapitel, dann zum achten und zum ersten Epilog. Die Motivik, die Menge an Anspielungen weist eine sehr starke Vernetzung mit der Haupthandlung auf.

Der Prolog spielt in der exklusiven Luxusresidenz Cosmoledo-Orbital. In der Mitte der Hohlkugel, in welcher dieser künstlichen Nachbildung der Seychellen gebaut wurde, gibt es eine wasserähnliche, Licht spendenden Flüssigkeitskugel, auf der man surfen kann. Damit haben wir nicht nur eine von Lukas’ geliebten farbigen Kugeln, sondern auch die Bewegung in der Luft, die ihm besonders angenehm zu sein scheint. Wir finden sie bei Severin Fock und Dr. Bouring, beim alten Gucky sowieso – aber Fock stürzt und Gucky muss sich mit der Schwerkraft auseinandersetzen.
Das Wohnzimmer ist vollgestopft mit Versatzstücken aus der Geschichte der Seychellen, die die Tefroder als kitschig empfinden. Eine lateinische Inschrift im Wappen wird als antikterranisch verstanden, den Spruch „Finit coronat opus – Der Abschluss krönt das Werk“ (S.7) empfindet Toio als „blöd“ und „bombastisch“ (S.7), da jeder Abschluss jedes Werk kröne – nach PR 2727 würde sie das wohl anders bewerten. Angesichts der Haupthandlung drängt sich eine Parallele zu Gucky auf, da dieser eine neue, modernisierte, entkitschte Persönlichkeit bekommen soll.
Die vier Tefroder, die sich bereits als rücksichtslose Profis eingeführt haben, mieten sich im vierten Kapitel im Luxushotel Croesus Terrania ein. Es liegt dort, wo „der Roi-Danton-Boulevard die Monol-Allee schnitt“ (S.23).
Das ist Programm. Roi Danton trat spannend auf als verkleideter Geck, und hinter der Maske als erfolgreicher Self-made-man. Darunter wiederum lag seine Identität als Rhodans Sohn. Sobald dies bekannt wurde, war es auch um seine witzigen, provokanten Auftritte geschehen. Monol ist nicht nur eine bekannte Uhrenmarke – der Sensenmann lässt grüßen – sondern im Perryversum auch ein Planet, der für die Umformung normalenergetischer Kräfte in hyperenergetische Energieformen steht. Die Okefenokees trafen dort in Zwergform ein nach einer langen, tot verbrachten Reise in sargähnlichen Behältnissen, und werden dort in Konstrukteure des Zentrums verwandelt. Gucky, der deutliche Spuren des Alters fühlte, machte diese Reise mit und wurde vollständig regeneriert. Es ist ein Kristallplanet mit goldfarben pulsierenden Ringwällen, der keine eigene Sonne besitzt, sondern von den umgebenden Sternen beleuchtet wird (vgl. PR 361 und 362 – danke, Perrypedia!). Somit weist er nicht nur die Farbe der Onryonenaugen auf, sondern stellt auch einen Wendepunkt in Guckys Leben und eine Parallele zu Severin Focks Paragabe dar.
Der antike Name des Hotels knüpft an die Inschrift im Wappen der Seychellen an, dessen Nachbildung im kitschigen Wohnzimmer in Cosmoledo-Orbital hing. Croesus war nicht nur sagenhaft großzügig und reich, sondern auch der letzte König von Lydien. Schon wieder die Vergänglichkeit. Außerdem eine nette Verknüpfung mit Toios Tarnnamen Lydia Rossi, der rothaarigen Untertanin des Croesus also.
Wie in Cosmoledo-Orbital die historischen Seychellen und ultramodernes Landschaftsdesign, so verknüpft Lukas hier altertümlichen Hotelservice und modernste technische Möglichkeiten, die den Werbeslogan des Hotels möglich machen: „Wenn Sie es erträumen können, machen wir es wahr“ in mehr als 5000 „ineinander verschlungenen Schriften der Milchstraße“ (S.23). Statt eines Schriftzugs jetzt über 5000 – das spiegelt das Galaktikum, und durch den Ort als Zwischenstation, an der etwas explodiert, die neue, größere Ordnung, sei es der San-Plan, die Atopische Ordo oder die tefrodische Weltherrschaft, von der Toio im Epilog träumt.
Krönung der Wunscherfüllung sind erstens die Möglichkeit, das menschliche Personal zur Trieberfüllung zu benutzen, sondern auch private Transmitter auf manchen Zimmern, die – schon wieder warmes Meer und Sand! – in die Karibik führen, in ein Tschomolungma-Museum am Gipfel des Mount Everest und auf Mimas.
Leider hat noch kein PR-Autor etwas Tibetisches verwendet und dabei einen kleinen Hinweis auf die aktuelle Misere Tibets eingefügt, was angesichts der katastrophalen politischen Lage durchaus eine sinnvolle Geste wäre. Es dient eher als Lokalkolorit. Deshalb will ich auch nur vage andeuten, dass man ein solches Museum als Symbol für das Erreichen eines hohen Ortes ohne die lebendige Erfahrung, was dieses Höchste bedeutet, lesen könnte. Ohne Anstrengung kein Ergebnis, parallel zu Guckys neuer Erdenschwere als Anlass der Reife – da ich kein Textsignal habe, kann ich diese Lesart natürlich nur von außen an den Text herantragen.
Auf dem Saturnmond Mimas gibt es nicht nur hunderte von Sanatorien, sondern auch die Strafanstalt PAKS für paraabnormale kritische Straftäter. Interessanterweise werden sie nicht als Mutanten bezeichnet. Erinnert mich an die Reportage über eine Frau, deren Gynäkologe stets vom Baby sprach – bis er eine schwere Behinderung diagnostizierte. Danach war es nur noch der Fötus. Und der sollte weg. Ebenso geht es Gucky und den „normalen“ Psibegabten - im TIPI wohnen alle möglichen, auch unnützen, jungen Mutanten. Gucky fühlt sich vor seiner Tat als unnützes Plüschtier, nach seiner Tat als abnormales Monster und Schwerverbrecher, der sich wegschaffen will.
So liegt eine ausgesprochen vielschichtige Gestaltung des Setting vor – natürlich wieder einmal über Gespräche, Zitate, Anspielungen und Ideenverknüpfungen. Anschaulich geschildert wird wenig, man kommt aber auch nicht dazu, dies zu vermissen. Äußerst überzeugend sind wiederum die auseinander treibenden Gepäckstücke des jungen Pagen, an dessen spirouähnlichen Namen sich der Butler Piro Simoneschi nicht erinnern kann – schon wieder etwas, das fliegt, und das gedoppelt durch das Schweben im Antigravlift.
Bemerkenswert der Abschluss des Kapitels: Das Ergebnis der Explosion wird in einem Zeitungsbericht dargestellt, aus dem tiefer Zynismus spricht: Die Hotelleitung spricht ihr Bedauern aus, setzt eine Trauerfeier an und versichert, dass Restaurant- und Kasinobetrieb unbeeinträchtigt bleiben werden. Ich erwähne es hier, weil es einer der dystopischen Einschübe ist, die schon vorher ein paar Mal auftauchten und die in der Folge zu einer der umstrittensten Passagen der jüngeren PR-Geschichte wurden: Das Abgleiten in eine düstere Welt der konkreten Gewalt und der schmutzigen Charaktere.
Als ein weiteres Vorspiel desselben sehe ich den Doppelband 2714 und 2715, der mit dem Auftauchen einer an komplexe physikalische Konzepte anknüpfenden „paradoxen Kontur“ (PR 2714, S.6) beginnt und vom „Herz der Macht“ (PR 2714, S.55) spricht und dann umkippt: Mit dem prolligen Auftreten der vier Eroberer – die Tefroder nennen die Weddonen und Yülzisch „Tellerköpfe“ (S.32) und Satafar spuckt gelben Schleim, der am Tischbein herunterrinnt - wird die Handlung immer blutiger und ignoriert die Erwartung an Gerechtigkeit, die an die Guten gestellt wird: Auch sie töten Unschuldige, verwirrt oder absichtlich. Bei Lukas fällt es aufgrund seiner Darstellungsweise nicht so auf, aber auch hier kommen Unschuldige ums Leben, und zwar durch die Guten und die Bösen, so dass die dramatische Gerechtigkeit aus den Fugen gerät.
Das siebte Kapitel spielt denn auch in der Lukas’schen Variante einer verbrecherischen Unterwelt. Diese liegt in der Unterstadt, genannt Subterrania, und in den drei Altais, einem heruntergekommenen Stadtentwicklungsgebiet. Wie in Christof Marzis Lycidas und in Kirsten Millers Kiki Strike – Die Schattenstadt ist diese Unterstadt genauso groß wie die an der Erdoberfläche. Sie reicht fünf Kilometer weit in die Tiefe, ihr Merkmal ist das Fehlen eines Tag-Nacht-Rhythmus durch immer gleiches Kunstlicht, und ihre Bewohner sind Extraterrestrier und ehemalige Besatzungsmitglieder von Fernraumschiffen, die billigen Wohnraum suchen und Kunstlicht mögen. Ab hier wird nur noch minimal verfremdet: Auf der 44. Subebene befindet sich das „Schattenland“, in dem der „neogotische Stil schwarzgekleiderter und maskierter Jugendlicher“ mit „depressiver Musik“ seinen ungefähr 666. „Aufguss erlebte“ (S.46). Die Gestaltung des Schattenlands ist so stilisiert wie die Zahlen, die es bezeichnen: „Im Schattenland, so ging die Mär, verkehrten nicht nur Möchtegernvampiere und Möchtegernzombies, sondern auch Personen, die zur echten Unterwelt Terranias“ (S.46) zählen, also „Bandenmitglieder. Gesuchte Kriminelle. Ausgestoßene der Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer. Halb irre Mutanten, die sich dem Zugriff der Behörden entzogen hatten (und) Agenten der diversen Geheimdienste“ (S.47).
Das Publikum zahlt scharenweise den „schamlos überhöhten Eintrittspreis“ für diesen Nervenkitzel. Der aber Fake ist, wie wir sogleich erfahren, indem wir den selbsternannten „Lord der Finsternis“ begleiten, der gutes Geld kassiert, indem er „Bürgerkindern den wohligen Schauer“ verschafft, die „Unterwelt der Gesellschaft gestreift“ (S.47) zu haben und ihnen Partner für heutzutage anrüchige Sexualpraktiken vermittelt. Somit bringt Lukas genauso eine nostalgische Form der aktuellen Wirklichkeit ins Jahr 1514 NGZ ein wie bei den literarischen Reminiszenzen des Butlers Pino. In diese behagliche, spießige Bürgerwelt brechen mit den vier Tefrodern die echten Haifische ein. Also Toio ihn nach kurzem Wortwechsel ermahnt, seine Hausaufgaben zu machen und geht, fühlt sich der Fürst der Finsternis, als sei er „mit knapper Not den Fängen des Schicksals entronnen“ (S.48). Die ertrusische Oben-ohne-Türsteherin erinnert an einen Jahrmarkt mit Kuriositätenkabinett.
Gleichzeitig kauft Trelast-Pevor der Spielehändlerin Dirimalanca ohne Feilschen die gecrackte Version des kürzlich neu veröffentlichten Super-Marius-Karaketta ab, woraufhin sie ihn fragt, was er wirklich will. Bemerkenswert der Käuferkreis des Spiels, bestehend aus „fünfzig oder sechzig Jahre alten Bierbauchträger(n), egal ob männlich oder weiblich“ (S.48). Futuristisch ist hier nur die komplette Gleichstellung der Frauen, ansonsten erinnert die Schilderung an Conberichte.
Satafar geht in die drei Alteis, den Schandfleck Terranias, der trotz blühender Wirtschaft, modernster Möglichkeiten und Wetterkontrolle durch sein raues Klima und die hässliche Bausubstanz verfiel und zu einer Sammelstelle asozialer und krimineller Elemente wurde. In einen leer stehenden Hangar für ein 2000m-Schlachtschiff steht eine einzelne, glitzernde Nadel: ein Turm, 180 Stockwerke hoch, von Scheinwerfern angeleuchtet. Einer der kleineren, dunkleren Nebenräume heißt „der Pfuhl“ und riecht nach „Schweiß, Blut und Sägespänen“ (S.49). Dort verdingt Satafar sich als Preiskämpfer. Nachdem er wider Erwarten die Titelträgerin, eine Epsalerin, verprügelt hat, wollen schmierige Gestalten ihn managen. Er weigert sich, da sie nur Quoten aufbauen und dann abkassieren, indem er freiwillig verliert – aber dann bietet er ihnen doch ein Geschäft an. Er hat eine Frage. Wie vorher bei Trelast-Pevor können wir nur erahnen, welche Informationen er will.
Anders beim Treffen des Schmerzensteleporters mit Po Pä Pylov im „Tempel der abgängigen Gottheiten“ (S.50). Das ist ein geheimnisvolles Treffen, denn Po Pä Pylov wird nicht klar, warum der Dialog „Doktor Livingston?“ – „Mister Stanley, nehme ich an?“ (S.50) als Erkennungszeichen gewählt wurde. Woher der Tefroder die Anekdote kennt, nach welcher der zwei Jahre verschollene Afrikaforscher und Missionar Dr. Livingstone am 10.11. 1871 von Henry Morton Stanley mit den Worten „Dr. Livingstone, I presume?“ begrüßt wurde, bleibt verborgen. Inhaltlich könnte man mit viel gutem Willen eine Parallele zur Absicht ziehen, mit der Lan Meota Zugriff auf die Flugbewegungen der Gleitertaxis haben will – schließlich wollen sie jemanden verschwinden lassen, und noch dazu die Milchstraße erobernd missionieren. Noch geheimnisvoller bleibt die Lokalisation der 63 Nagelmesser, welche die Nichtmenschliche aus den je sieben Fingern ihrer sechs Hände hervorschnellen lässt, um Lan Meota einzuschüchtern. Wenn jeder Finger eines hat, ergibt dies nur 42 – wo die anderen sitzen, kann sich jeder selber ausmalen. Das ist interessanter, als einen Fehler zu vermuten.
Im Epilog, wieder bewusst von der triumphierenden Toio formuliert, befinden sich die bis dato siegreichen Eroberer in einem „Substandard-Gemeinschaftsheim in Altai High“ – eine Umgebung, die „selbst von terranischem Ungeziefer weitläufig gemieden wird“ (S.56). Ihr Teleporter hat Rhodans Haus erkundet, und Toio schildert ihre Eindrücke von der Anwesenheit von Aktivatorträgern auf Terra und berichtet Gerüchte über Bostichs Verbleib. Auch Monkeys Name fällt – sie nennt das Personal der Folgeromane. Diese Passage steht ebenfalls großteils im Präsens – zu Anfang und Ende des Romans wird Toio damit zur Erzählerfigur, die bewusst die Geschichte darstellt. Sie lauscht so intensiv wie nur möglich mit ihren Parasinnen nach Aktivatorträgern und verkündet die Absicht der Gruppe, alles zu tun, um ihr Ziel zu erreichen.
II. Sympathielenkung in der Tefroderhandlung
Spoiler:
II. Sympathielenkung in der Tefroderhandlung
Die vier Eroberer treten bei Lukas weniger prollig auf als bei anderen Autoren: Trelast-Pevor versteht alte Sprachen und interessiert sich fürs Stricken, alle verhalten sich diszipliniert, weil sie dies zur Verfolgung ihres Ziels brauchen. Trotzdem unterbindet ihre Rücksichtslosigkeit von vornherein jede Sympathie. Aber auch die Milchstraßenbewohner kommen nicht allzu glänzend rüber. Die Swoons wollen Spaß haben, indem sie Witze über den Bau menschlicher Sexualorgane machen, der Page gewinnt seine Persönlichkeit nur aus der Anspielung auf einen Cartoon und die Hotelleitung bleibt bei sachlicher Trauer, die die Geschäftsinteressen nicht tangiert.
Aufwändig gezeichnet ist der Butler Pino Simoneschi, der paar Seiten nach seiner Einführung sterben wird. Wir lernen ihn als eitlen Wichtigtuer kennen, der vor lauter enzyklopädischen Wissensbrocken zum Thema Butler die Wirklichkeit nicht wahrnimmt – er merkt beim Reden nicht, seit wann sein Gesprächspartner weg ist, und missversteht seine offensichtliche Verzweiflung als Wissbegierde. Gleich darauf offenbart er sich als hoteleigener Edelcallboy, der Geschenke seiner Kundinnen als Trophäen sammelt. Keine Vorraussetzungen, ihm eine Träne nachzuweinen, als er sich Toio alias Lydia beharrlich aufdrängt, weil er sich derart toll fühlt. In ihren Worten: Der „brünstige Butler Pino“ macht „fatal vorwitzige Avancen“ (S.56). Er bringt sich derart beharrlich selber in die Bredouille, dass er irgendwo gerecht ist, wenn er einen unnützen Todes stirbt – die vier Tefroder hätten ihm sonst nichts getan. Unbeirrbar setzt er seinen „Augenaufschlag mit nachfolgendem Dackelblick“ (S.28) ein, und versucht so doch in Erfahrung zu bringen, warum er stirbt: „Du wirst mich doch nicht dumm sterben lassen“. Es erzeugt kein Mitgefühl, sondern ist richtig erfüllend, wenn Toio ihn cool abblitzen lässt: „Oh doch, du wirst lachen, das kann ich. Und jetzt halt die Klappe“ (S.28).
Andererseits ist Pino keine Hassfigur, er schadet niemand, macht vielen Frauen Freude und ist ein Unikum, wie sie im modernen Leben viel zu wenig vorkommen. Gerade die österreichische Erzähltradition, die nostalgisch an die Habsburger Monarchie als Epoche der persönlichen Freiheit anknüpft und an Wiener Originale wie Peter Altenberg, kennt den Wert des völlig nutzlosen, verschrobenen Unikums, wie es unersetzbar und unvergleichlich sein eigenes Leben lebt. Während die Zeitungsnotiz das moderne Leben zeigt, in dem er vor allem darum geht, den rastlosen Betrieb rund um die Uhr weiterzuführen.
Wegen Toios Abschiedsspruch „Friede seinem Testosteron“ bezeichnete ich ihn unwillkürlich als vom Testosteron Getrieben – bis mir die Parallele zum Titel des zweiten Epilogs, „der Getriebene“, auffiel, in dem der von seinen Verfolgern gejagte Perry Rhodan den von Schuldgefühlen getriebenen Ilt aufsucht, um über die Veränderung hinaus ihre Freundschaft und seinen Wert zu bestätigen: „Was von dir übrig ist […] ist mir immer noch mehr als genug“ (S.59).
III. Die Haupthandlung – Guckys Rückkehr
Spoiler:
III. Die Haupthandlung – Guckys Rückkehr
Die Haupthandlung des Romans sind die Geschehnisse um die Mutanten Severin Fock, Sharin und Muaz Riocourt, die mit anderen jungen Mutanten im TIPI leben und betreut werden. Ihre Ärzt sind Orest Athapilly, der in Marc A. Herrens „In eine neue Ära“ eine Hauptrolle spielen wird, Dr. Kupferblum und Dr. Andessou Bouring. Dann ist da Gucky, der nach über zwei Jahren aus dem Koma erwacht, aber unter Umständen, die ihn für immer verändern. In die Zeit vor und nach dieser Veränderung zerfallen die beiden Hälften des Romans – die erste die Darstellung der üblichen Beschäftigungen Jugendlicher, die zweite düster, voll Angst, Tod und Schuld.
Die gleiche Zweiteilung verwendet Lukas in seinem Clip „Geehrter Herr Islam“ (http://www.youtube.com/watch?v=gL0ka5RcDuc), allerdings beginnt dieser düster, während die zweite Hälfte ein heiteres Fest zeigt: Von den Missständen des Islam hin zum lebensfrohen Idealzustand. Hier soll Gucky erwachsen werden, also kippt der unbeschwerte Zustand der Jugend in den gebrochenen des Erwachsenen.
III.1. Setting der Haupthandlung
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III.1. Setting der Haupthandlung
In der Eingangsszene lernen wir Severin Fock als Meister einer Art Gravoskateboard kennen, der einen Wettstreit unter Jugendlichen des Viertels bestreitet. Als ein Bewunderer, ein Jülzish, ihn herausfordert, scheitert er überraschend und baut einen Unfall. Bei den darauf folgenden Untersuchungen im TIPI, dem Terranischen Institut für paranormale Individuen, und in der Startac-Schröder-Klinik einer geheimen Spezialklinik für paranormale Syndrome, lernen wir ihn genau kennen, weil sich die Ärzte über ihn unterhalten und wir sein Verhalten bei den Untersuchungen, allein und in Gesellschaft beobachten können. Die Handlung in TIPI und Startac spielt in mehreren Untersuchungsräumen, Severins Zimmer, der Kantine und den Korridoren. Im Epilog befindet sich Gucky in seinem Krankenzimmer.
III.1.1. Fliegen im Gravokubus
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III.1.1. Fliegen im Gravokubus
Eine Fock ist ein Segel. So ist Severins Affinität zum Gleiten und Fliegen schon durch einen sprechenden Namen angekündigt. Der Gravokubus ist eine futuristische Form der Freizeitgestaltung. Bei Minimal- und Nullschwerkraft gilt es, teils holographisch projizierte, teils festmaterielle Hindernisse auf einem Gravosurfbrett zu überwinden. Allerdings hat Severin Fock die Schwierigkeitsstufe gewählt, bei der man immer wieder von plötzlich einsetzender erhöhter Schwerkraft überrascht werden kann, die noch dazu plötzlich den Vektor ändert. Deshalb braucht man einen enorm guten Orientierungssinn. Den er offensichtlich hat, er ist der Champion – und plötzlich findet er sich nicht mehr zurecht, knallt kopfüber in einen Tekonitblock und muss abtransportiert werden.
Das Publikum ist interstellar – eine „messingfarben geschminkte Arkonidin“ (S.9) ist da, sein Herausforderer ist der Jülzish Blürynd’Ilatyrk mit dem Spitznamen Rondo, eine Schulkasse samt Lehrer schaut zu. Alle sind freundlich zueinander, es geht um den Sport. Wobei mir der Name Ilatyrk schon ein Vorbote des in Istanbul spielenden Folgeromans „Altin Magara“ zu sein scheint.
III.1.2. TIPI und Startac – die Gebäude
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III.1.2. TIPI und Startac – die Gebäude
„Die Startac“ liegt in einem Park, der offiziell als „Biotop für seltene Gewächse“ (S.12) gilt. Das niedrige, schneeweiße Gebäude ähnelt einer sich öffnenden Lotusblüte. Der unterirdische Gang zum Eingang und der Verbindungsstollen zum TIPI werden streng bewacht. Der Tunnel mündet im Zentrum des stilisierten Blütenkelchs, während reflektierende Elemente der Dachverglasung darüber die Lichterflut Terranias spiegeln. Zum Foyer führt eine sanft ansteigende, ebenfalls schneeweiße Rampe. Auch die Ärztin Dr. Pavlivis ist schneeweiß gekleidet (vgl. S.12).
Das TIPI lernen wir kennen, als der untersuchte Severin nicht einen der unterirdischen Verbindungstunnel zur Heimkehr benutzt, sondern sein Gravobrett. Quer über das Universitätsgelände schwebt er auf das Pendant des 180 Stockwerke hohen Turms in der Unterwelt zu, nämlich einen samt filigraner Spitze 180 Meter hohen Turm. Von der Spitze werden an Festtagen Funken versprüht. Vom Turm kragen sechs Disken von 35 bis 45 Meter Durchmesser aus, durch röhrenförmige Zugangsbrücken und geschwungene Streben gefestigt und mit insgesamt 42 Wohneinheiten in den Doppeletagen der oberen drei Disken. Im Turmstängel gibt es einen Antigravschacht. Auch dieses Gebäude macht einen floralen Eindruck. Severins Wohnung hat einen wunderbaren Ausblick über Terrania, den er aber alleine nicht sehen kann. (vgl. S.16)
III.2. Ärzte, Jungmutanten und Diagnosen
Spoiler:
III.2. Ärzte, Jungmutanten und Diagnosen
Die Ärzte Orest Athapilly, Dr. David Kupferblum und Dr. Andessou Bouring treten ausschließlich als Betreuer der Jugendlichen und Guckys auf. Diese werden in hohem Maße über Diagnosen charakterisiert.
Gleich bei der Beschreibung des Gravokubus ist von der Gefahr einer„Kinetose“ die Rede, die eintritt, wenn „das Gleichgewichtsorgan im Innenohr sowie die Tiefensensibilität des Körpers widersprüchliche Informationen ans Gehirn lieferten“ (S.9) – um anzudeuten, dass Severin in dieser Hinsicht einen angeborenen Vorteil habe. Gleich als er sich im Gepräch mit Dr. Kupferblum den bandagierten Kopf reibt, erfahren wir, was es mit ihm auf sich hat: Er braucht den Input seiner Beobachter, um sehen zu können, denn er hat keine Augen. Deshalb sieht er stets aus mehreren Perspektiven gleichzeitig, und sein Gleichgewichtssinn ist Kummer gewöhnt. Kupferblum mahnt ihn zur Vorsicht, zur „Redundanz“ (S.11), weil er stets Beobachter einplanen muss, und verkündet, dass er auf Anweisung von Direktor Athapilly im Startac, der Spezialklinik für Mutanten, untersucht werden muss. Womit er in die Nähe des bewusstlosen Gucky kommt.
Dr. Kupferblum trägt einen „steifen Gehrock“ (S.12) wie aus präastronautischer Zeit, hat eine spleenige Art und genießt großes Vertrauen unter den jüngeren Bewohnern des TIPI. Die dritte Ärztin, Dr. Pavlivis vom Startac, diskutiert mit Kupferblum über Severins Fähigkeit: Durch das Fehlen von Augen habe sich der Gesichtssinn seinen eigenen Weg gebahnt. Sie behält ihn zur Beobachtung dort.
Das zweite Kapitel beginnt mit einem Gespräch zwischen Dr. Kupferblum und Dr. Athapilly, in den dieser erst mal beschrieben wird als gut aussehender Strahlemann mit Glatze, der an die Schwarzwaldklinik erinnert. Er hat seine Professur an der Universität Terrania, über die wir in PR 2729 mehr erfahren werden, aufgegeben, als Tanio Ucuz mit anderen Funkenkindern auf die Reise ging, wodurch die Stelle am TIPI frei wurde.
Die beiden stellen Severin als hochbegabten, verantwortungsbewussten Jungen dar. Athapilly vermutet – ganz in Übereinstimmung mit heutigen psychologischen Theorien über Jugendliche – einen seelischen Hilfeschrei hinter dem Unfall, doch Kupferblum, dem sich die „Zöglinge […] öffnen wie keinem anderen“ (S.14), bestreitet das: Severin sei überdurchschnittlich reif und gefestigt und sei nur ein wenig zu leichtsinnig gewesen. Daraufhin informiert ihn Athapilly über die Probleme eines anderen TIPI-Bewohners, Muaz Riocourt, der an „albtraumhaften Verzerrungen der Wirklichkeit“ (S.14) leide. Er und seine Schwester Sharin werden ebenfalls ins Startac überstellt. Somit ist das Personal für die folgenden Ereignisse an Ort und Stelle.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels lernen wir den vierten Arzt kennen, Dr. Andessou Bouring, ein Hawaianer mit Schnurrbärtchen und luxuriösem Bartpflegebalsam, einen passionierten Surfer. Er und Athapilly unterhalten sich noch einmal über Severins Verantwortungsbewusstsein, über die anderen 45 jungen Mutanten im Internat des TIPI und den Sonderpatienten Gucky, der seit dem erneuten Verschwinden des Mondes Lebenszeichen von sich gibt – obwohl Muaz Riocourt seit dem gleichen Zeitpunkt Wahnvorstellungen hat, lehnen die Ärzte ab, einen Zusammenhang zu sehen. Athapilly hat ein ungutes Gefühl, aber unter Wissenschaftlern gilt das natürlich nicht.
Im dritten Kapitel, benannt „Blitze und Schatten“, lernen wir Jinka Tonga Wettanker kennen, eine vollkommen unnütze Mutantin, und den noch unnützeren paranormal stinkenden Zwergepsaler Karolus. Wegen ihrer Fähigkeit zum Blenden mit anschließendem Kopfschmerz ist sie unbeliebt, man nennt sie „ein leuchtendes Furunkel am Hintern“ (S.18). Sie betet Severin an und möchte durch ihn ihrem Leben einen Sinn geben – da er keine Netzhäute hat, kann sie ihn auch nicht aus Versehen blenden. „Jinka“ ist eine Stadt in Südäthiopien, mit „Tonga“ sind wir schon wieder auf einer Insel, diesmal im Pazifik. „Wettanker“ kann man als Wetteranker lesen – sie möchte Severin auch Stütze und Anker sein. Er mag ihre Unsicherheit, fühlt sich sehr zu ihr hingezogen, aber fürchtet den „Beginn einer schrecklichen Abhängigkeit“ (S.18). Aufgrund der Nebenwirkungen ist sie ständig gezwungen, ihren medizinischen Status Quo zu referieren, um ungefährlich zu wirken. Was dann doch schief geht.
Am Ende dieses Kapitels informiert Dr. Bouring in seinem Besprechungszimmer im untersten Diskus Severin über Guckys Anwesenheit im Startac. Er deutet an, dass Severin dem Ilt helfen könne, aus dem Koma zu erwachen. Der Junge ist sofort bereit dazu.
Severin begegnet dem Ilt, als er in einem Labor im sechsten Stock liegt, abgesichert durch einen isolierenden Hochenergie-Überladungsschirm. Der Arzt diagnostiziert Paragaben als „Wechselwirkungen zwischen der realen und der mentalen Ebene des Multiversums.“ So wird es möglich, dass Gucky als ein grundlegend Anderer aufwacht, denn „(v)erändert sich die mentale Konfiguration, kann sich auch die Art der Wechselwirkung mit der Realität verändern“ (S.21). Der Arzt liefert die pseudomedizinische Grundlage für die beabsichtigten Veränderungen am Charakterbild des Protagonisten.
Gucky wird von Kampfrobotern bewacht, während sich sein „schrecklich kraftlos wirkende(r) Körper“ (S.21) im Antigravfeld bewegt, durch Schläuche versorgt und entgiftet. Severin wird durch den Schirm geführt, Bouring informiert ihn – und uns – aufgeregt über die Veränderungen und Severin beginnt die Kontaktaufnahme. Er sieht aber nur ein traumloses Fluidum, etwas wie „flüssige Schatten. Und dahinter […] eine schwarze, ungefüge, unstrukturierte Wand“ (S.22).
In mehreren Versuchen erzielt Severin keinen Fortschritt, aber plötzlich ist eine typische Redewendung aus Guckys Selbstverherrlichungsprogramm in seinem Kopf, nämlich „Retter des Universums“ (S.22f). Er fragt sich, ob das seine Gedanken sind oder die des Ilts und kommt zu dem Schluss, dass der Spruch einfach allzu bekannt sei. Guckys Zustand verbessert sich, das Zittern, Zucken und Wimmern beruhigt sich. Severin verehrt ihn so sehr, dass er es nicht wagt, ihn zum Abschied zu berühren.
Das fünfte Kapitel bildet den Höhepunkt des Handlungsstrangs. Gucky erwacht. Das Kapitel beginnt in der Kantine: Severin sitzt mit den Riocourt-Geschwistern am Tisch, die Euphorikerin Sharin bewirkt, dass alle sich blendend fühlen und wir erfahren von Muaz’ Problem: Einerseits über seinen Bericht, andererseits über Severins Einblick in sein Bewusstsein. Er sieht schreckliche Monster, schmatzende Wände, schlingende Ranken um seine Füße. Als Shadin zurückkehrt, beruhigt er sich.
Weil er in Shadin verknallt ist, verplappert sich Severin, und durch ihre Konzentration wird er so euphorisch, dass er von Gucky Geheimnis erzählt. Zugleich werden die restlichen Anwesenden so high, dass eine Orgie droht. Sie nimmt sich zurück, und dem ernüchterten Severin fällt immerhin ein, dass ihre Gabe auch Gucky helfen könnte.
Von seinem Erfolg erfährt Severin erneut durch Professor Bouring: Alle Werte haben sich verbessert. Als er seine Gabe einsetzt, sieht er schwarze und grüne Schatten. Bald darauf erwacht Gucky. Die Informationsvergabe läuft weiterhin in hohem Maße über die Aufgaben der Ärzte: Sie diagnostizieren Guckys jeweiligen Zustand, prognostizieren die Entwicklung seine Parafähigkeiten, können den Tod zweier Jugendlicher feststellen, Warnungen übers Interkom durchgeben, vor Guckys Selbstmord warnen und Rhodan informieren. Ihre Aussagen binden die Handlung zusammen und motivieren sie. Die weiteren Vorgänge untersuchen wir unter der folgenden Überschrift.
III.3. Guckys Verwandlung – das Ende der Jugend
Spoiler:
III.3. Guckys Verwandlung – das Ende der Jugend
Als der hilfsbereite Severin von Guckys Anwesenheit hört, denkt er sofort an die überaus beliebte Simulshow „Das Imperium der Mausbiber“ und an die glühende Bewunderung aller Parabegabten für den Mausbiber. Er steht dem Ilt völlig kritiklos gegenüber, vergöttert ihn bedingungslos, kennt ihn als fröhlich und uneingeschränkt fähig. Er ist verblüfft, dass er im Koma liegt – diese Information ist geheim. Seit er beim Versuch, durch das Technogeflecht zu durchdringen, vier Minuten verschwunden blieb, hatte Guckys Existenz der des Teletemporariers Ernst Ellert geglichen, der Aufbewahrung eines reglosen Körpers in einem Krankenhausmausoleum. Perry Rhodan besucht ihn regelmäßig, um beim Sprechen seine Probleme zu durchdenken.
Innerhalb des Zyklus finden wir eine Parallelgeschichte mit dem verstorbenen Naat Ghlesduul, den Tormanac da Hozarius immer mit sich führt als Ruhepunkt und Objekt stummer Zwiesprache. Im Vorzyklus verhalf der Naat Tormanac zum Start in den Erfolg, jetzt ist dieser ganz oben, aber schwer krank, gealtert und einsam. Auch Rhodan ist ziemlich allein. Aber Gucky lebt.
Severin hat es geschafft, Gucky aus dem Koma zu holen, aber als er in der Folge Privatinitiative ergreifen will, um ihm durch einen Parablock wieder Zugang zu seinen Paragaben zu verschaffen, geht das anders aus als erwartet: Severin stirbt, und Gucky stellt fest, dass er dessen Paragabe übernommen hat. Mit der er sich nicht auskennt, da er eben nicht gewohnt ist, aus wechselnden Perspektiven zu sehen. Gucky, der eben noch in der Bewunderung der Jugendlichen badete, will angesichts der tödlichen Gefahr, die er repräsentiert, trotz seines geschwächten Zustands wegrennen, er kann sich aber nicht orientieren. Dies führt zum Tod des verwirrten Muaz Riocourt, so dass Gucky die Telekinese wiederbekommt.
Auch Shadin hat den alten Gucky im Kopf: den, dessen Marmorstandbild in der Aula des TIPI steht, den man vor schwierigen Prüfungen symbolisch hinter den Ohren krault, um Glück zu haben, „ihrer aller Vorbild, ein unerreichbarer Leitstern“ (S.42). Man erzählt sich, er habe „früher die Gedanken der Bewohner ganzer Sonnensysteme auf einmal geespert“ (S.42), was sie vorbehaltlos glaubt. Sie ist verwirrt, dass Muaz in Guckys Gegenwart ihrer Kontrolle entgleitet und überall Dämonen sieht. Und sie bemerkt zögernd und befremdet, dass sie vor ihm Angst hat.
Als die Geschwister den Ilt im Gang wieder treffen, übt dieser das Gegenteil von luftigem Fliegen aus: nach jahrelangen Koma, ans Teleportieren und an telekinesches Abstützen des Gewichts gewöhnt, rennt er auf seinen schwachen, krummen Beinen, so schnell er kann. Neben der Schwerkraft ist seine Desorientierung sein Feind. Und dass er nicht genau zwischen Erinnerung und Gegenwart unterscheiden kann.
Dieses sechste Kapitel ist in hohem Maß in erlebter Rede geschrieben: Der Leser kann Guckys Gedanken miterleben, dann die von Shadin dann von Muaz, dann wieder Guckys. Der denkt an Perry Rhodan, dann über seine alte Identität nach: „Klein, aber oho. Klein, aber…tödlich“ (S.43). Er denkt an seine Zeit als Clown der Truppe, wie er Bully schweben ließ, Kampfroboter zerdepperte. Dass er als Einziger seiner Art, als „das einsamste und knuddeligste Wesen im bekannten Multiversum“ (S.43) einem Klischee entspricht. Die Benennung als Plofre sieht er als Rebellion, aber „es war auch nicht der Bringer gewesen“ (S.43). Er fühlt die Last der Jahrtausende, bereut, das Labor verlassen zu haben, jammert nach Perry, rennt ohne telekinetische Unterstützung, bemerkt den Gedanken, sich einen Teleporter „zu schnupf(en)“ (S.43), der ihn entsetzt. Immer war er überlegen gewesen, gerade der Schwerkraft, größeren Gegnern und Sachzwängen. Das war vorbei.
Gucky ist überfordert, kennt sich nicht aus und zweifelt an allem, was ihn ausmacht, als er die Riocourt-Geschwister trifft. Er warnt sie, doch der verwirrte Muaz weicht nicht zurück. Und jetzt trifft Gucky einen weiteren Feind in seiner neue Paragabe: Er ist nicht daran gewöhnt, die subjektiven Gedankenbilder direkt zu sehen, erlebt sich über Muaz’ Bewusstsein als grauenvolles Monster und den Gang als Albtraumszenario. Hier gipfelt die erlebte Rede aus drei verschiedenen Perspektiven in ein Tohuwabohu, in dem sich keiner mehr auskennt. Der Inhalt wird durch die Form in idealer Weise transportiert. Der Arzt kommt mit Kampfrobotern, Shadin hält ihn zurück, bemerkt, dass Muaz’ Paragabe anders eingesetzt wird als sonst, indem die Kampfroboter auseinander fliegen, und erst danach stellt sie seinen Tod fest.
Im achten Kapitel kommt Gucky zu sich, ist völlig entsetzt und offenbart sich als „Paradieb. Oder besser Raubmörder, denn meine Opfer sterben dabei“ (S.50). Dass Sharin ihm vorwirft, dass Severin und Muaz ihn verehrt haben, verstärkt seine Schuldgefühle. Er läuft weg.
Der Arzt gibt Alarm und lässt den Bereich räumen. Aber nachdem Severin mit seiner Initiative gescheitert war, tritt die Euphorikerin Shadin auf den Plan. Sie veranlasst den Ilt, der an Selbstmord denkt, zu einem Treffen. Auch sie ist noch jugendlich, aber reifer als die beiden Jungs, und sie weist Gucky den Weg ins Leben: Er soll Verantwortung für Muaz und Severin übernehmen, indem er das, was von ihnen geblieben ist, in sich weiterleben lässt.
Dann veranlasst sie Gucky, sie zu berühren. Die Szene erinnert sehr an den Harry Potters Begegnung mit Voldemort im Wald: Es steht im Raum, ob sie lediglich mit den Verstorbenen wiedervereint sein möchte. Aber sie bietet sich selber an, und der Tod tritt nicht ein. Wobei die Euphorisierung durch ihre Paragabe ihr wesentliche Dienste leistet.
Gucky tritt hierdurch in ein Stadium der Reife ein: Er lernt, sich führen zu lassen und zu nehmen. Und mit einer unerträglichen Schuld zu leben. Nie wieder wird er sich unbeschwert feiern lassen können – in einem der Folgeromane tut er es aus Showgründen, um Anwesenheit zu demonstrieren, das ist alles.
Im Epilog ist sein Gesicht „verschattet“ (S.58), als er Rhodan trifft – er wagt es nicht, ihn zu berühren. Allerdings spricht er wieder von Karotten und lässt sich „einen halben Meter in die Höhe schweben […] als habe es ihn buchstäblich vom Sitz gerissen. Zwar blitzt sein Nagezahn, doch er bezeichnet sich als „Abklatsch seiner selbst“ (S.59). Dass Rhodan sich davon nicht beeindrucken lässt, sondern betont, dass ihm dieser Rest noch mehr als genug sei, leitet die sich ab jetzt entfaltende Entwicklung ein, in der Gucky mit weniger Trara und mehr Planung, Erfahrung, Weisheit in seine Einsätze geht.
IV. Auswertung
Spoiler:
IV. Auswertung
Die Analyse hat streckenweise einen anderen Verlauf genommen, als ich erwartet hatte. So wurde ich davon überrascht, in welch hohem Maß Lukas das Setting verwendet, um die Handlungsstränge miteinander zu vernetzen. Und wie sehr die Ärzte, die in diesem Roman kaum abgelöst von der Handlung in Erscheinung treten, die Informationsvergabe tragen und die Hauptpersonen zusammenbringen.
Ob Lukas Gefühle darstellt? Seine Personen sind unaufhörlich intellektuell aktiv, sie denken ihre Gefühle eher als dass sie sie empfinden. Die Informationsvergabe erfolgt in hohem Maß über Fachwissenschaftler, die sich nicht emotional beteiligen dürfen. Und die Personen sind in dermaßen hohem Maß als Seher, Blender, Verwirrte mit verzerrter Wahrnehmung charakterisiert, dass alles Wahrgenommene ständig relativiert wird.
Meine These, dass seine Darstellung vom Dasein als Bühnenkünstler geprägt sind, möchte ich aufrechterhalten, auch wenn ich nicht viel zusätzliche Belege gefunden habe: Stets zählt das Beobachtete einerseits, die große Ich-Aussage andererseits. Seine Hauptpersonen treten vor anderen auf: der testosterongetriebene Butler Pino vor den Gästen, die vier Eroberer in ihrer auffälligen Tarnidentität vor den Bewohnern Terranias, Severin beim Sport und Gucky vor den Jugendlichen, die ihn aus Sitcoms kennen und ihm übermenschliche Verehrung entgegenbringen. Seine Paragaben entsprechen im Ansatz der Intuition, die man braucht, um Publikum zu manipulieren, und der Tatsache, dass Bewundern und Bewundertwerden ganz hoch heben kann, aber auch in gegenseitiges Auffressen ausarten kann – und sei es nur, dass man die Eigenschaften der Personen übernimmt, denen man sich solchermaßen öffnet.
Futuristischen Elemente wie der Gravokubus und das Bezahlen durch das verbale Autorisieren einer Finanztransaktion sind Science Fiction. Hinzu kommen in sehr hohem Maße Szenerien der Gegenwart, so die verschiedenen Butlerversionen, die Bierbäuche, die nostalgisch-bürgerlichen Moralvorstellungen und der fehlende Tag-Nacht-Rhythmus im städtischen Nachtleben. Dass die gezeichnete Jugendkultur aber gerade die der Emos sein muss, das hat sicher nichts mit emotionalen Bindungen des Autors, sondern mit den Emots der Onryonen zu tun.
Immer wieder lässt Lukas seine Protagonisten fliegen, schweben, gleiten, doch in diesem Text ist diese Motivik außergewöhnlich stark gebündelt, weil sie die unbeschwerte Leichtigkeit des frühen Gucky repräsentier, die in diesem Roman in Erdenschwere, Schuld und Verantwortung umkippt, aber auch eine differenziertere Zeichnung seiner Persönlichkeit ermöglicht. Denn jetzt kann er nicht mehr aus dem unerschöpflichen Reservoir seiner Paragaben zaubern, sondern muss planen, begründen, in Interaktion treten. In diesem Roman sind erst mal Schwere und Schuld dargestellt, welche die folgende Entwicklung einleiten. Wer Gucky als die zentrale Gestalt der Serie erlebt, für den ist dies einer der Wendepunkte schlechthin.
Der Roman enthält bei genauerem Hinsehen überraschend viele Gelegenheiten zur Gewaltdarstellung, die Lukas in seiner stilisierenden, ständig reflektierenden Erzählweise löst, über pflanzenhafte Gebäude, eine allesdurchdringende Chiffrenhaftigkeit der Namen und Bezeichnungen und durch relativierende Blickwinkel, ohne das vergossene Blut real und die Situationen schwer und bedrückend zu machen.

- Ergänzung -

Nachdem ich diesen Text im Forum eingestellt hatte, fügte Leo Lukas, der sich „in vielen Punkten verstanden“ fühlte, einen kleinen Hinweis zu Blürynd’Ilatyrk an – leider ist der Youtube-Clip „Blue Rondo A La Turk - Dave Brubeck“ in Deutschland nicht zugänglich. (vgl. viewtopic.php?f=4&t=4739&p=212888#p212888.)
Nachdem ich noch ein paar Tage länger darüber nachgedachte hatte, möchte ich hinzufügen: Zumindest mir als Leser geht es so, dass Lukas’ Texte in ganz hohem Maße auf eine Ergänzung durch ebendiesen Leser angelegt sind – ich denke, ich vermute, ich schlage noch was nach, und dann noch was. Diese Aktivität scheint ein grundlegender Aspekt seiner Anlage zu sein. Was wieder auf die Sache mit dem Bühnenkünstler zurückführt.
Aber das System von Bezügen geht ja noch weiter. Dies ist nun schon die zweite Analyse eines Lukas-Romans, die ich übergreifend anlege – einmal der Vergleich zu Vandemaans Hälfte der „Nanokrieger“ (auf http://cc-zeitlos.de), einmal das Abstützen auf Marc A. Herrens „In eine neue Ära“ – das man dieser Analyse nicht in repräsentativem Maße anmerkt, aber es ist wirklich so, dass ich ohne den ruhigeren Folgeroman diese Untersuchung nicht hätte auf den Punkt bringen können. Ich hatte bisher nicht gemerkt, in welch hohem Maße Lukas nicht nur auf ältere Romane zurückgreift, sondern auch sehr, sehr umfangreich den Fortgang der Geschichte ankündigt und vorbereitet, so dass er bei genauerem Hinsehen nicht so exaltiert ist, wie er rüberkommt, sondern ein ausgeprägter Teamarbeiter.
Zuletzt geändert von Slartibartfast am 7. Januar 2014, 17:43, insgesamt 2-mal geändert.
Grund: Abschnitt "Auswertung" auf Wunsch der Verfasserin ergänzt
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alraska »

Wow, Alexandra, was für eine Analyse. Ich fand sie sehr, sehr interessant und so einiges, was du entdeckt hast, ist mir beim Lesen gar nicht aufgefallen. Respekt! Nur....
Leid tun mir die Teenager nicht, so sympathisch sie sind, das ist der Vorteil an Lukas' Erzählweise.
Genau das empfinde ich als Nachteil an Lukas' Erzählweise. Denn ich meine, je mehr Mitleid ich für die Teenager empfinden kann, desto mehr kann ich mich in Guckys Leid hineinversetzen. Aber da hat wohl jeder seine eigene Sichtweise.

Nochmals Danke für deine Rezension!
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Alraska hat geschrieben:Genau das empfinde ich als Nachteil an Lukas' Erzählweise. Denn ich meine, je mehr Mitleid ich für die Teenager empfinden kann, desto mehr kann ich mich in Guckys Leid hineinversetzen. Aber da hat wohl jeder seine eigene Sichtweise.
Meine Zugangsweise kann man getrost als Dosenöffnertechnik bezeichnen.

Die Zielsetzung dabei: Wie komme ich in die Darstellungsweise des Autors rein, vgl. viewtopic.php?f=4&t=5093&p=209962#p209962.

Die Problematisierung lasse ich bewusst und absichtlich außen vor, aus pragmatischen Gründen.
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Haywood Floyd »

Wow, Alexandra: was für eine Ausarbeitung! :)

Wie ich anderswo schrieb: irgendwo...! :st:
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Haywood Floyd hat geschrieben:Wow, Alexandra: was für eine Ausarbeitung! :)

Wie ich anderswo schrieb: irgendwo...! :st:
Inzwischen habe ich dein vercapp(in)tes "irgendwo" gefunden. Lieb von dir. Es bedeutet mir auch was.
In der Tat gibt es diese Art des Deutschunterrichts, bei dem, na ja, sehr vieles vorher klar ist.
Ich mag das nicht.
Zuletzt geändert von Slartibartfast am 7. Januar 2014, 12:49, insgesamt 2-mal geändert.
Grund: Posting auf Wunsch der Verfasserin editiert
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Haywood Floyd »

:D
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Hiermit möchte ich euch auf die kommende Ausgabe der SOL aufmerksam machen, die SOL Nr. 74.

Diese 74 ist auch die Nummer des Heftes "Das Grauen", mit dem William Voltz in die Perry-Rhodan-Serie einstieg.

Und in dieser SOL Nr. 74 gibt es eine Untersuchung über Voltz' Schreibstil, mit der ich in den vergangenen Wochen viel Zeit verbrachte.

Dabei habe ich vor allem den "König von Atlantis", "Ich, Rhodans Mörder", das Heft Nr. 1000 "Der Terraner" und die Kurzgeschichte "Kaleb, die Antenne" einbezogen.




Was meine Wenigkeit betrifft, so ist es garantiert der beste Text, den ich geschrieben habe.
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Haywood Floyd »

Alexandra hat geschrieben:Hiermit möchte ich euch auf die kommende Ausgabe der SOL aufmerksam machen, die SOL Nr. 74.

Diese 74 ist auch die Nummer des Heftes "Das Grauen", mit dem William Voltz in die Perry-Rhodan-Serie einstieg.

Und in dieser SOL Nr. 74 gibt es eine Untersuchung über Voltz' Schreibstil, mit der ich in den vergangenen Wochen viel Zeit verbrachte.

Dabei habe ich vor allem den "König von Atlantis", "Ich, Rhodans Mörder", das Heft Nr. 1000 "Der Terraner" und die Kurzgeschichte "Kaleb, die Antenne" einbezogen.

Was meine Wenigkeit betrifft, so ist es garantiert der beste Text, den ich geschrieben habe.
Bekommen wir den Text dann auch (irgendwann mal...) hier im Forum zu lesen? :unschuldig: :D :o(
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Werner Fleischer »

Wenn die übliche Frist für solche Veröffentlichungen abgelaufen ist - die besteht aus Sicht von Andre und mir bis zum Erscheinen der nächsten SOL - sicherlich. Nur hat derjenige nicht die Vorteile auch all die anderen spannenden Artikel über William Voltz zu lesen und sich an den Bildern zu erfreuen. Wer jetzt in die PRFZ einsteigt erhält die Nummer 74 und alle anderen stets sicher zugeschickt.

In Absprache mit Andre werden wir zur ggf. Zeit auch Appetithappen von einzelnen Artikeln ins Forum stellen. Meines Erachtens gehören aus der nächsten Nummer die folgenden Artikel dazu:

- Artikel von Alexandra

- "Ade Perry Rhodan - Oder wollte William Voltz die Serie mit Band 1500 einstellen"

- Zum Geleit von Inge Mahn

Warten wir es einmal ab wie es kommt!

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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Heiko Langhans »

Wir dürfen doch wohl davon ausgehen, dass dies in Absprache mit den jeweiligen Autoren geschieht.

Im Übrigen halte ich diese Vorgehensweise für eine ganz schlechte Idee. Damit beraubt sich die SOL ihrer inhaltlichen Exklusivität, die allerdings ohnehin schon durch die gelegentliche Aufnahme zuvor online gestellter oder anderweitig veröffentlichter Texte gefährdet ist.
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Werner Fleischer »

Hallo Heiko, nun gehe ich einmal davon aus das auch für die SOL geworben werden sollte. Und wenn eine halbe Seite eines Artikels im Netz veröffentlicht wird erweckt das eher die Neugier und führt im besten Fall der SOL neue Leser zu. Es sollen keine vollständigen Artikel veröffentlicht werden sondern einige Zeilen die neugierig auf den Rest des Artikels oder der SOL machen

Gerhard Förster praktiziert dies für die Sprechblase regelmässig und ich habe nicht den Eindruck das hier die Exklusivität verloren geht da im Grunde der Beginn eines Artikels eingesetzt wird. Die Sprechblase hat eine Auflage von 5000 Exemplaren - steigend.

Ebenso wie die Sprechblase stellt der Spiegel regelmässig den Beginn seiner großen Artikel ein. für mich ist das immer ein Grund Sonntags schon einmal nachzulesen auf welche Artikel ich mich am Montag stürzen werde.

Ich sehe die Problematik eher darin das Artikel oftmals in der SOL ein zweites Mal gebracht werden, nachdem Sie zuvor schon im Internet standen. Dieses Verfahren ist absolut fern jeder Exklusivität.
Ich bin sehr froh das wir verhindern konnten das einer der für die SOL 74 geschriebenen Artikel vor Veröffentlichung der SOL schon im Internet landete. Hier hätten die Leser zu Recht sagen können "Warum bezahle ich für etwas was ich im Grunde kostenlos bekomme".
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Hallo Leute,
seinerzeit hatte sich um die "Ordische Stele" (PR2741) eine Diskussion entsponnen, die habe ich noch mal als Text ausgearbeitet. Gut, blieb jetzt auch eine Zeit lang liegen.
Vorgestern habe ich mir dann mal wieder das Hörbuch angehört, und da fiel mir eine jener ironischen Brechungen zwischen Fiktion und echtem Leben auf, die mich zur Zeit vollständig zu tun geben: Die Wortschöpfung des "Ushindirama" spiegelt genau jenen Vorgang der Bebennung, den ich mit meiner Idee der "Extrasinnperspektive" aufgegriffen und inzwischen längst vergessen hatte.


Hier also der Text - um niemanden zu erschrecken, ist das meiste im Spoiler :D .


Christian Montillion: Die Ordische Stele (PR 2741)

Die Errichtung der ersten Ordischen Stele in der Milchstraße steht für eine neue Runde im Konflikt zwischen den Werten des Atopischen Tribunals und denen der Galaktiker. Dieser spiegelt sich in der Erzählweise des Romans und in der verwendeten Bildlichkeit. Das ist besonders interessant, weil Montillion nicht nur Autor, sondern auch Expokrat sind. Hier möchte ich seine Erzählweise und die Übernahme älterer Bilder in den Konflikt ums Atopische Tribunal untersuchen.

Bei jeder personalen Erzählsituation sitzen wir Leser unbemerkt mit im Kopf der Reflektorfigur und verfolgen mit, wie und was sie sieht, hört, schmeckt, fühlt, tut, alles gefärbt von ihrer Persönlichkeit, auch die Wahrnehmung der solchermaßen vermittelten Umgebung. CM verwendet eine Erzählweise, bei der die Gefühle, Gedanken und Lebensumstände der Protagonisten ständig „im Bild“ sind, weil diese als Reflektorfiguren wie als Gesprächspartner stets und ständig alles kommentieren.

Ungewöhnlich ist dabei die explizite Nennung der Denkvorgänge – weil das so ein spezifischer Individualstil beim Erzählen ist, entsprang meinem Spieltrieb in Anlehnung an den Begriff der „Handtaschenperspektive“ für Irmgard Keun, auch eine Individualbezeichnung, der Begriff der „Extrasinnperspektive“, weil ständig, aber auch wirklich dauernd besprochen, eingeschätzt, abgeschätzt und geplant wird. In Keuns Erzählvorgang fließen Zeitsprünge, Rückblenden und Kommentare verwirrend nahtlos in den Monolog einer einzigen Erzählerfigur ein. Im Gegensatz hierzu verwendet CM eine hohe Anzahl an Reflektorfiguren, die wir Leser beim Denken begleiten. Auch diese Vorgehensweise erschwert den Überblick.

Natürlich stimmt „Extrasinnperspektive“ nicht ganz - der Unterschied zumindest zu Atlans Extrasinn liegt im völligen Fehlen von Sarkasmus. Aber Ironie als Diskrepanzphänomen mit seinem wechselseitigen Beleuchten von Positionen kann zumindest in der „Ordischen Stele“ deshalb nicht auftauchen, weil sich in der Diskrepanz zwischen den Deutungsebenen verschiedener Reflektorfiguren und ihrer Informationslage ein ganz gewaltiger Sein-Schein-Gegensatz auftut, der denWertekonflikt zwischen den Galaktikern und dem Atopischen Tribunal in der Struktur des Romans abbildet. Die fiktionale Realität entsteht als relativer Schein, etabliert über einen enormen Aufwand an Denkaktivitäten. CM verwendet Redeeinleitungsformeln fürs Denken und siedelt sich an in einem Grenzbereich zwischen personaler und auktorialer Erzählhaltung an, wegen des hohen Maßes an Informationsvorsprung seiner Figuren und ihrer Außensicht auf die Fiktion. Zugleich sind sie zutiefst zwiespältig, auch unzuverlässig in ihrer Betrachtungsweise, wie wir gleich am ersten Dialog von PR 2741 merken:

„Das sieht nicht gut aus.“
„Lordadmiral Monkey hat gesagt, dass es länger dauern könnte“, gab der Pilot zu bedenken.
„Monkey ist auch so ein Pessimist“, kommentierte Blosstur.
„Oder Realist?“ fragte Passan.
Der Kommmandant dachte nach. „Vielleicht nichts von beidem. Monkey ist eben Monkey. Und er wird sich nie ändern.“
„Glaubst du?“ (PR 2741, S.5)

Zur Unsicherheit in der Lesart der Personen kommt noch eine des Setting hinzu. Wo ein „normaler“ Schriftsteller auf echte, oft dem Leser vertraute Örtlichkeiten zurückgreifen kann, muss die Verortung in der SF künstlich aufgebaut werden. Der Perry-Rhodan-Autor hat hier die Serienkonstanten zur Verfügung und Elemente aus dem echten Leben, die in die fiktionale Ebene nachbilden.
Spoiler:
...Serieninterne Elemente in der „Ordischen Stele“ sind z.B. der ophalische Sänger (S.5), die schon im Vorroman geschilderte Explosion von Noros, der Planet Aurora – diesmal aus der Distanz geschildert, die Konfrontation zwischen Galaktikum und Atopen – eine Summe vieler Einzelheiten, die in ihrer Kontinuität die Wirklichkeit der Serie konstituieren. Dann gibt es vertraute Dinge aus unserer echten Welt: die Woks, das Pflaumenmus und das „Nessun Dorma“, das durch seine Ansiedung im Prolog das Rahmenthema des Romans ausdrückt. CM liefert gleich eine überzeugende Begründung für das Abspielen dieses Musikstücks mit - die beiden Mehandor diskutieren darüber, ob es für sie Sinn macht, ein alterranisches Stück zu hören. Mit seiner Einstufung als „historische, ja fast antike Aufnahme“ des ophalischen Sängers (S.5) setzt dann jene Verunsicherung des Lesers ein, die CM systematisch zu betreiben scheint – unsere Allgemeinbildung wird außer Kraft gesetzt, und noch vieles mehr.

Die Zahl der Reflektorfiguren ist hoch, und jede hat ihre eigene Sehweise: Auf der einen Seite der Onryone Penccas Khelliod, der von Anfang das Errichten der Stele plant und in der Bedeutung des Moments schwelgt. Seine Gegenspieler sind zahlreich, auch ihre weitreichenden Pläne lernen wir aus ihren Köpfen und Geheimbesprechungen kennen. Trotzdem hat jeder Geheimnisse vor den anderen Protagonisten und vor dem Leser. Durch diese Geheimnistuerei entsteht dann wieder eine begrenzte Perspektive und hierdurch Spannung. Ihre Gemeinsamkeiten sind also von der Handlungsführung her ihre Mission, technisch das Offenlegen ihrer Bewusstseinsvorgänge und von der inneren Handlung her ein gewissermaßen oszillierendes Verhältnis zur Realität.

Und da CM seinerzeit fast über Kirchenliedforschung promoviert hätte, lag die Parallele zum Barock nahe: der Sein-Schein-Gegensatz beispielsweise in einem derart populären Kirchenlied wie dem barocken „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ scheint natürlich erst mal ganz was anderes zu sein, aber bei näherer Betrachtung von Handlungsführung und Figurencharakteristik dieses Romans findet man Parallelen: Es geht ebenfalls um Wertekonflikt, quasireligiöse Auseinandersetzung und Täuschung. Mit dem Totenreich des Schmerzensteleporter und leidvollen Wanddurchgängen zuletzt im „Schwarzen Palast“ von MS inklusive Skelettvisionen finden wir Attribute des „memento mori“ – gedenke des Todes! Hinzu kommen aussagekräftige Romantitel des Germanisten CM: „Unter der Technokruste“ (Sein/ Schein), „Vier gegen ITAFOR“ (Blut, Schmerzen), „Im Wolkenmeer“, „Preis der Gerechtigkeit“ und „Totentanz“ - von den blutigeren, schmerzhafteren Romanen MTTs im von CM geprägten Zyklus ganz zu schweigen.

Blut, Eiter, Schmerzen, höhere Gerechtigkeit, Deutung der Welt unter dem Blickwinkel einer bestimmten Idee der Gerechtigkeit als Wahrheit liegt vor, die Weltbilder der Atopen und der Galaktiker sind antithetisch. Noch dazu ist eine für uns Leser seit dem barock etablierte Bildlichkeit verwendet, um die neue fiktionale Realität aufzubauen - die Ebene ist die der Motivgeschichte. CM hat in jedem Roman irgendetwas mit Blut, Eiter oder Erbrechen versteckt. Mit der Blutrünstigkeit des barocken Bühnenstücks kann er allerdings nicht mithalten, und ich will ihn auch gar nicht auf Ideen bringen.
Schauen wir uns mal die durchgängig aufgebaute Diskrepanz von Sein und Schein im Roman an: Gleich im ersten Kapitel nach den zweifelnden Springern beschäftigt sich Monkey mit einem Buch über Saedelaere, um ihn endlich besser verstehen zu können, denkt über seine Ideen über den Swoon Gyr Boskaide nach und kommentiert, was ein Zeitgenosse Perrys über einen Cheborparner gedacht hätte, was seine Zeitgenossen denken, und dann unterhalten sie sich über ihre Sichtweisen.

Dann geht es weiter mit dem Onryonen Penccas Khelliod, der über seine Rolle in der „Befriedung“ der Milchstraße nachdenkt und dem ein Spion, ein Gestaltwandler, die Pläne der Gegner verrät. Die Lichtquallen im Antigravfeld, in denen er badet, haben als Pendant die rote Stele, die so eindrucksvoll antransportiert, eingesetzt und von UFo betreten wird. Ich mag die fließende Art, in der sich das Gesicht herausbildet. Für meine Theorie entscheidend ist ihre Art, sich von oben herabzusenken und ihre Beichtstuhlfunktion – Beichtstuhlform hatte schon der Atopische Synaptor in Haensels PR 2736, auch er ein Kommunikationsinstrument mit den geheimnisvoll entrückten Gesetzgebern, die alles besser wissen. Im Barock gab es den Dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, und im Konflikt mit den Atopen erhalten diese ein Bildinventar aus dem Katholischen. Was natürlich von seiner eigentlichen Bedeutung abgelöst ist, es enthält keine Kritik am echten Katholizismus, die Bildlichkeit ist aber vertraut und kann hierdurch eine fiktionale Wirklichkeit erzeugen, die „echt“ wirkt.

Die Gegenseite hat nicht die eine einzige Wahrheit der Verkündigung. Ihre Wahrheit lebt dezentral im Innern jedes Einzelnen, der letztlich in Eigenverantwortung seiner Entscheidung nachkommen muss – das ist protestantisch. Wie gesagt, nur von der Zugangsweise her. Erst kommt Ufos erster Parolmann, Träger der geheimen Zugangscodes zu den Mysterien des Galaktikums: Der Dron Enderquett, verfremdet durch seine Schuppen, vertraut durch Wok und Pflaumenmus. Über seine Vorgeschichte denkt er übersichtlich nach, sein „Herr“ ist anwesend, aber ausgeblendet. Über den Informationsvorsprung des Dieners vor dem Botschafter entsteht ein gegenläufiges Hierarchiegefälle, wieder eine starke Diskrepanz zwischen Sein und Schein. Das wird dann noch mal getoppt durch Enderketts „Topologisches Labyrinth“, das mich an Bokos Klause in PR 2616 erinnert – parallel, dass beide als Stützpunkte für den großen Angriff dienen, dort der auf die Sonne, hier erst mal der auf die Angreifer, dann der Weg zum Treffpunkt der Parolleute. Aber während Boko von der Treue zu seiner Schwester motiviert wird, ist Enderketts Rückzugsort von UFo installiert und Ankerpunkt seines geheimen, übergeordneten Plans. Er zieht sich in diese inneren Gefilde zurück so wie der pietistische Protestant im Gebet, in der Versenkung in Gott „entrückt“ und „entzückt“ wird, nämlich der Welt entzogen.

Auch in den Machenschaften von Monkey und UFo geht es um das Spiel mit der Wirklichkeit, Sein und Schein, wenn der Onryone ausgetrickst wird, so dass er die beiden Leibwächter aufs Schiff lässt, deren einer der verkleidete Monkey ist mit dem versteckten Swoon im der Bauchattrappe, der dann das Holorama Ushindis auslöst, das von den echten Vorgängen ablenkt – zwischendrin kommen ein Mann, der die Augen seiner verstorbenen Frau als Spiegel seiner (!) Seele sieht (vgl. 23) – auch diese sehr persönliche Mann-Frau-Begegnung findet sich in fast jedem CM-Roman - und die Ushindi abgezapfte Blutprobe, die mit dem echten Blut des echten Künstlers einen scheinbaren Tod vortäuschen wird.

Die eingeschobene Handlung um den zweiten Parolmannes dreht sich um den Arkoniden Aksandsar da Hay Boor, einen Messingträumers, der nur widerwillig in der Realität bleibt und nicht versteht, wo der Haluter herkommt, der ihn rettet, weil er nicht begreift, in welchen Zusammenhängen er sich bewegt. Der dritte Parolmann, der Hasproner Luba Sieben ist doppelt, tritt nämlich mit Tochter auf, hat gleich Ufo einen unaussprechlichen Namen, und die Menschen können nicht erkennen, welcher von beiden Männlein oder Weiblein ist. Während Monkey und der Swoon unter dem Paros-Schirm mit seiner tödlichen Strahlung unterwegs sind, kommen Todesnähe, Schmerzen und Eiter, und dann eben die Münchhausenhandlung – der gute, alte Lügenbaron in der fiktionalen Realität, der Ritt auf dem Linearraumtorpedo.

Dass CM mit seinem Hintergrund des Germanisten und Kirchenliedforschers derart viel mit Sein und Schein arbeitet und Tod, dass bei genauerem Hinsehen so viel Nähe zum Barock sichtbar wird, bestärkt den Status der Ordische Stele als Symbol, und zwar als Symbol jener Gerechtigkeitsproblematik, die diesen Zyklus so grundlegend durchzieht. Was die Werte betrifft, so stehen sich die Stele als verkündendes Manifest einer absoluten Ordnung und die kleinen, herumeilenden, verwirrten und verwirrenden (täuschenden) Gestalten mit ihrem sie alle umschließenden Gesamtplan gegenüber. Diese verkörpern aber "unsere" Ordnung, eine relative, demokratische, jeden Einzelnen betreffende Ordnung, die im Inneren jedes Einzelnen immer wieder neu entsteht. Also "gut", wobei die "Bösen" auch "Gutes" tun bzw. dies behaupten, und von ihrem Gutsein ohne jeden Zweifel überzeugt sind, was sie "böse" macht.

In diesem Chaos entstehen Fäden ein großes Musters, einer Great Perrychain of Being, das den Zyklus insgesamt weniger verwirrend erscheinen lässt. Die Great Chain of Being war ein zu Shakespeares Zeit geltendes Konzept der hierarchischen Stufung alles Seienden, ganz unten die Mineralien, dann die Pflanzen, die Tiere, die Frauen und die Männer, letztere natürlich abgestuft nach sozialer Schichtung. Dann kamen die Geister, die Engel und schließlich Gott. Dieses Wertemodell hat eine Entsprechung im Perryversum, und zwar sind die Naturgeister, Engel und (mit Vorbehalt) Gott durch die höher entwickelten Außerirdischen und dann durch Mutanten, Körperlose, x-dimensional Denkende, SIs, Kosmokraten usw. ersetzt - die Sache mit Gott kommt bleibt am Rande präsent: Rhodan ist in unaufdringlicher Weise Christ. Zuletzt fiel sie mir bei Lukas' "Winters Ende" auf, und bei Delorians emanzipatorischem Schöpfungsakt.
Noch wissen wir nichts über die Rangfolge von Atopen und Kosmokraten – anscheinend steht auf dem Spiel, dass sich ein neues Modell von Gerechtigkeit einpendeln soll, eine neue galaktische Ordnung, die neue Serienkonstante werden soll. Die aufgezeigten Parallelen fallen in den Bereich der Motivforschung: Die Atopen sind nicht katholisch, nur weil sie Beichtstuhl und Verkündung von oben haben, und die Galaktiker sind nicht evangelisch, nur weil ihre Begegnung mit der Wahrheit in jedem Einzelnen stattfindet und in inneren Räumen. Was mich an diesem Aspekt jedoch beschäftigt, ist die Nähe zur programmatischen Szene in PR 1000, in der der kleine Perry in einem Gewitterblitz zu ES entrückt wird, der in der Folge gewisse Eigenschaften in ihm wachhält, die Kinder sonst verlieren, wenn sie groß werden. Und die dann die Menschheit, die Galaxis und alle Universen retten. Dieser persönliche innere Antrieb, die Zivilcourage, der Wert des Einzelnen, das sind Werte, die der Perry-Rhodan-Serie zutiefst zugrunde liegen. Die neuen Expokraten haben es geschafft, die Serie wieder beweglicher zu machen und einen grundlegenden Wertekonflikt zum Thema zu machen. Hoffentlich gelingt es ihnen auch, sie mit lebendigen Anliegen zu füllen.


copyright@Alexandra Trinley, März 2014
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Alexandra
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Re: Charakteristik der Autoren

Beitrag von Alexandra »

Der Uraltthread, ich weiß - da nicht jeder, den es interessiert, das Fanforum besucht, schreibe ich es hier rein: Die Textuntersuchung zu Arndt Ellmer, die ich damals großteils irgendwo vorn hier drin hatte, bereite ich gerade für meinen Blog auf. Das geht leichter als ich gefürchtet hatte, und diesmal weiß ich auch, worauf ich den Text zulaufen lasse. Also, wenn die Einzeldateien mal durch sind.
Hier der erste Teil: https://blaetterfluggedankenschnuppendo ... und-warum/

Die Aufbereitung der Dateiabschnitte stimmt mich regelrecht nostalgisch, ebenso wie die Teilnehmer hier im Thread, von denen doch mehrere aus de einen oder dem anderen Grund nicht mehr da sind.
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